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Magie der verlorenen Welten oder der Ruf der vergessenen Stadt

Als er die Stadt erreichte, hielt ihn nichts davon ab, sich direkt zu den Ruinen aufzumachen, die sich in ihrer Nähe befanden. Eine seltsame Faszination für alte Bauwerke hatte ihn in letzter Zeit ergriffen - eine Leidenschaft, die er sich nicht erklären konnte.

Dar Ben Moro Taskoukamt, Foto: marokko-erfaren.de

Bis vor kurzem noch waren solche Monumente für ihn nichts weiter als kalte, leblose Steine, ohne Bedeutung, nutzlos, ja geradezu lästig. Doch etwas hatte sich in ihm verändert, wie durch eine chemische Reaktion tief in seinem Inneren. Stück für Stück entdeckte er eine mystische Anziehungskraft, die von diesen Relikten ausging, eine leise Sprache, die nur er zu hören schien.

Er hatte begonnen, sich ihnen mit gespannter Aufmerksamkeit zu nähern, als wollte er ihre stummen Schwingungen erfassen. Und tatsächlich - die Steine schienen zu ihm zu sprechen. Geheimnisse aus einer längst vergangenen Zeit offenbarten sich, als wollten sie endlich das Schweigen brechen. Wie genau das geschah, wusste er nicht, doch er war sich sicher, dass eine intime Verbindung zwischen ihm und diesen Überresten entstanden war. Von da an konnte er seine Neutralität gegenüber historischen Stätten nicht länger bewahren.

Die verlassene Stadt

Amerhidil, Foto: marokko-erfaren.de

Als er die verstreuten Überreste der Ruinen erblickte, die auf sanften Hügeln schlummerten, überkam ihn ein unerwartetes Gefühl der Freude. Ein leichter Wind trug die kühle Frische des Ortes zu ihm und erfüllte ihn mit einer unerklärlichen Euphorie. Er hatte sich absichtlich den frühen Abend für seinen Besuch ausgesucht, um den Ort in stiller Abgeschiedenheit zu erleben.

Die Sonne hing wie eine riesige orangefarbene Kugel am Horizont, ihre letzten Strahlen tauchten die Szenerie in ein sanftes, purpurfarbenes Licht. Ein Hauch von Ehrfurcht ergriff ihn, als er den Boden der vergessenen Stadt betrat. Die verbliebenen Säulen und die Kulisse dahinter bildeten ein Bild von atemberaubender Schönheit. Vorsichtig durchstreifte er die Überreste - Mauern, Pfeiler, Bruchstücke alter Straßen - und stellte sich vor, wie unzählige Füße diesen Ort einst belebt hatten. Seine Vorstellungskraft erweckte die Ruinen zum Leben, füllte die Leere mit Erinnerungen aus längst vergangenen Tagen.

Nach einer Weile suchte er sich einen Platz, von dem aus er das gesamte Panorama überblicken konnte. Doch sein Blick blieb nicht bei der Gesamtszene stehen. Er verlor sich in den feinsten Details: den zarten Linien auf den Steinen, den Formen der Bauwerke, den verfallenen Bögen, die einst majestätisch den Himmel umspannten. Diese Beobachtungen erfüllten ihn mit einer unbeschreiblichen Freude. Es war, als stünde er an der Schwelle zu einer tiefen Offenbarung. Der Wind flüsterte um ihn, und ein unerklärliches Kribbeln durchzog seinen Körper, bis er sich ihm ganz hingab.

Ein Fenster in die Vergangenheit

Skoura, Foto: marokko-erfaren.de

Plötzlich erschienen vor seinem inneren Auge vage Gestalten. Allmählich nahmen sie Gestalt an, umringten ihn, füllten die Ruinen mit Leben. Die Mauern erhoben sich aus ihrem Verfall, die Bögen spannten sich wieder in ihrer vollen Pracht. Der Ort erwachte zu seiner früheren Herrlichkeit, frisch und unversehrt, wie gerade erst erbaut.

Er sah Wächter in polierten Helmen, bewaffnet mit langen Speeren, in perfekten Reihen marschieren. Ihr Anblick faszinierte ihn, und er verharrte regungslos, als ob jede Bewegung die Illusion zerstören könnte. Einer der Soldaten kam ihm näher, und für einen Moment schlug sein Herz schneller. Doch der Wächter nahm keine Notiz von ihm, ging einfach vorbei, als wäre er unsichtbar. In diesem Augenblick wurde ihm klar: Er war nur ein stiller Beobachter, ein Schatten in diesem wiederauferstandenen Reich.

Dann entdeckte er eine Frau. Sie trug einfache Kleidung, auf ihrem Kopf balancierte sie einen Korb voller Früchte oder Gemüse. Ihre Zöpfe fielen auf ihre Schultern, und ihr Körper war mit Schmuck und Tätowierungen bedeckt. Ihre Schönheit war von einer rohen Anmut, und dennoch sprachen ihre Augen von einer schweren Last. Sie schien etwas zu verkaufen, sprach in unverständlichen Lauten zu den Soldaten. Ein Hund folgte ihr treu, während sie an ihm vorbeiging, ohne ihn zu bemerken. Er sehnte sich danach, sie zu berühren, doch er wusste, dass er nicht wirklich Teil dieses Ortes war.

Plötzlicher Lärm durchbrach die Szene

Zwei Soldaten zerrten einen Mann, offensichtlich einen Einheimischen, über den Platz. Der Mann kämpfte, schrie Worte, die er nicht verstehen konnte, doch sein Schmerz war spürbar. Die Soldaten waren unerbittlich, und der Anblick erfüllte ihn mit Ohnmacht. In diesem Moment begriff er, dass sich die Essenz der Welt nicht geändert hatte. Die Formen mögen sich gewandelt haben, doch die tiefere Wahrheit blieb dieselbe.

Ein Ruf riss ihn aus seiner Vision

„Monsieur Mohammed! Monsieur Mohammed!“, rief ihn ein Mann aus seiner eigenen Zeit mit scharfer Stimme. Er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln, und als er die Ruinen noch einmal betrachtete, schien die Illusion endgültig zu verblassen. Der Mann erklärte ihm in strengem Ton, dass es verboten sei, nach Sonnenuntergang hier zu verweilen. Mit einem letzten wehmütigen Blick auf die wieder stille Szenerie verließ er den Ort, seine Gedanken jedoch blieben gefangen in den Geschichten, die die Ruinen ihm zugeflüstert hatten.

Über den Autor Mustapha Laghtiri