Jnan Sabil - Andalusische Sehnsucht im Garten der Sinne
Bereits der Name Jnan Sabil klingt wie ein sanfter Zauber in den Ohren und lässt eine verheißungsvolle Sehnsucht im Herzen erwachen. Inmitten eines Labyrinths aus blühenden Pflanzen und schattenspendenden Bäumen zieht dieser weitläufige Garten seine Besucher in eine Welt aus andalusischen Mustern und Motiven. Auf geschwungenen Wegen und stillen Plätzen entfaltet sich der Duft von Myrte und ruft Erinnerungen wach an die paradiesischen Gärten und verträumten Nächte von Sevilla und Granada.
Der "Garten des Weges", Jnan Sabil, entstand als königliches Geschenk an die Stadtbewohner und ruft die Sehnsucht nach einer längst vergangenen Zeit wach. Hier verbindet sich die Gegenwart mit der Geschichte, als ob eine unsichtbare Brücke zwischen den Stadtteilen von Fès gespannt wäre.
Die Ursprünge dieses prachtvollen Ortes reichen ins 18. Jahrhundert zurück, als Sultan Moulay Abdallah den Grundstein für die Anlage legte. Sultan Hassan I. (1873–1894) veredelte den Garten schließlich zu einem kunstvollen Kleinod, das an die filigranen, andalusisch inspirierten Gärten erinnert. Mit neu errichteten Mauern wurde nicht nur ein sicherer Raum geschaffen, sondern erstmals auch eine Verbindung zwischen den beiden Stadtteilen. Ein verborgener Gang erlaubte den Damen des Königspalastes den Zugang zu den Gärten, ohne die Blicke der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen.
Am östlichen Ende dieses unterirdischen Korridors erstreckten sich die Sommerresidenzen der Königsfamilie – beginnend beim strahlend weißen Dar al-Bayda, der „Weiße Palast“, bis hin zum Palast an der Bahia-Platz, der später zum Bahia-Museum umgestaltet wurde.
Jnan Sabil - Garten der Zeit und der Erinnerung
Jnan Sabil weckte schon lange vor seiner Öffnung im Jahr 1917 die Bewunderung der Besucher. Der deutsche Reisende Gerhard Rohlfs beschrieb ihn 1862 voller Ehrfurcht: „Oft bewunderte ich im Vorübergehen die majestätischen Baumgruppen und die hohen, schlanken Palmen, die diesen Garten krönten. Einst war dieser Ort nur für den Harem bestimmt.“ Heute, eingebettet zwischen ehrwürdigen, historischen Bauwerken, erzählt Jnan Sabil von vergangenen Zeiten: Im Norden liegt der Platz Bab Boujloud mit den alten Festungsmauern der Almoraviden und Almohaden, während er im Westen an den Al-Machouar-Platz grenzt, wo sich der Königspalast und die „Makina“ befinden, eine Waffenschmiede, die Sultan Hassan I. errichten ließ, um die Abhängigkeit von europäischen Waffen zu verringern. Im Hintergrund erhebt sich das leuchtende Weiß von „Fès el-Jedid“, der merinidischen Neustadt.
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist Jnan Sabil eine geschätzte Oase für die Stadtbewohner und ein Ort, der zum Innehalten und Genießen einlädt. Besonders freitags finden sich hier Familien ein, begleitet von Kindern und kleinen Snacks wie gerösteten Kürbiskernen und Erdnüssen, um die friedliche Atmosphäre und das Zusammenspiel aus Licht und Schatten zu erleben. Die verschlungenen Pfade und geschwungenen Wege, gesäumt von üppigen, duftenden Pflanzen, laden zur Entdeckung ein - jeder Weg ein wenig anders gestaltet und einzigartig.
Rund um die vielen kunstvollen Springbrunnen verweilen die Menschen und lassen sich von den Wasserspielen verzaubern, in deren Becken einst bunte Fische schwammen. Die tief empfundene Verbindung der Bewohner zu diesem Garten ist ein fester Bestandteil ihrer Erinnerungen und Erzählungen geworden, sodass Jnan Sabil einen lebendigen Platz im Alltag und der kollektiven Erinnerung der Menschen einnimmt. Ein Sprichwort fasst diese Achtung in einem Satz: „Wie in Jnan Sabil - schaue und handle mit Bedacht.“
Jnan Sabil - Paradies der Sinne
Nach dem Ideal eines paradiesischen Gartens gestaltet, entfaltet sich Jnan Sabil hinter sieben prächtigen Toren aus kunstvoll geschmiedetem Eisen, die den Besucher in eine Welt voll exotischer Pflanzen geleiten - Gewächse, die die Augen der Menschen noch nie erblickt und deren Namen die Ohren nie gehört hatten. Hier mischen sich Chinesischer Bambus, lateinamerikanische Kiefern, Pflanzen aus Indien und Afrika mit vertrauten Bäumen wie Orangen- und Zitronenbäumen, Palmen, Oliven und Granatäpfeln.
Sanfte Wasserläufe durchziehen den Garten, und an ihren Ufern schöpften einst hölzerne Räder das Flusswasser und leiteten es in entfernte Becken. Cafés säumten diese kleinen Kanäle und lockten Besucher aus allen Teilen der Stadt, die sich dem entspannten Treiben hingaben. Im rhythmischen Rauschen der Wasserläufe erklangen klassische Lieder der großen Sänger wie Zahra al-Fassiya, Boujemaa Farrouj, und berühmte Stimmen aus dem Osten wie Umm Kulthum, Asmahan und Mohammed Abdel Wahab. Menschen aller Gesellschaftsschichten versammelten sich hier: Handwerker, Kaufleute, Intellektuelle und sogar Gelehrte der Qarawiyin-Universität und Sympathisanten der nationalen Bewegung wie Allal al-Fassi und Ibn al-Hassan al-Wazzani. Auch Künstler wie der marokkanische Sänger Abdelwahab Doukkali fanden hier Inspiration.
Jnan Sabil war nicht nur ein Fest für die Sinne, sondern auch ein Ort der Erholung, der mit seinem kleinen See eine Insel der Freude schuf. Auf dieser Wasserfläche schaukelten einst kleine Boote, die Besucher mieten konnten, um in aller Ruhe über das Wasser zu gleiten. Heute sind die Boote verschwunden, doch die kleine Insel im Zentrum des Sees bleibt bestehen, bewachsen mit Palmen und Bäumen und Heimat für Enten und Gänse.
Dieser Garten war und ist ein Ort der Träume und Sehnsüchte, ein lebendiger Raum der Inspiration. Dichter besangen Jnan Sabil voller Liebe, und in den einleitenden Versen seines berühmten Gedichts zeichnet Belaid al-Soussi ein Bild von erhabener Schönheit, das den Zauber dieses Gartens in die Herzen der Menschen trägt.
Jnan Sabil - Melodien und Erinnerungen
Dieser verzauberte Garten war stets eine Muse für Lieder und Gedichte. Die Worte des Volksdichters fangen seine Magie ein: „Wer das Schöne sucht, findet es hier. Lass die Seele im sanften Schatten ruhen.“ Der Dichter und Schauspieler Hammadi Tounsi gab Jnan Sabil gar die Würde einer eigenen Adresse: „Oh Reisender im Auto, bring mir Botschaften. Meine Heimat ist Jnan Sabil - mein Haus findest du, versteckt zwischen Zweigen.“
Auch Mohamed al-Mdaghri, einer der großen Dichter der Melhoun-Poesie, hat diesen Garten in seinem berühmten Werk „d’Demlej“ (Der Armreif) verewigt. In seinen Versen wird die Liebe vor der neuen Zisterne von Jnan Sabil beschworen, wenn das goldene Abendlicht die Szene verzaubert: „Wann finden wir uns wieder?“ fragt der Liebende, und die Antwort, voller Sehnsucht, verheißt: „Komm am nächsten Freitag, und wir treffen uns im glanzvollen Schein von Jnan Sabil.“
Doch Jnan Sabil ist mehr als ein Garten der Ruhe. Seine grünen Ecken und verwunschenen Pfade boten schon immer Raum für ein pulsierendes kulturelles Leben: An seiner Westseite entstand früh ein Freiluftkino nahe dem Café Naoura, und in den 1970er-Jahren diente er als Bühne für regionale Festivals von Theatergruppen und Musikern. Die berühmten „Ghiwani“-Musikgruppen traten hier auf, und auch heute erklingen beim „Festival des Melhoun“ und beim Sufi-Musik-Festival wieder Melodien, die den Garten neu beleben.
Einige Orte in Jnan Sabil erzählen auch von vergangenen Tagen: An der Mauer zur Straße von Sidi Majbar befand sich bis in die 1970er-Jahre ein kleiner Tiergarten, mit Käfigen für Affen, Eichhörnchen und Vögel. Heute können Besucher in den Volieren noch immer Pfauen und Tauben beobachten, die wie alles hier von dem reichen Erbe und den ewigen Melodien von Jnan Sabil künden.
Jnan Sabil - Die grüne Bühne der Volkskunst und Begegnung
Jnan Sabil war einst ein lebendiger Treffpunkt, an dem der Alltag auf die Magie künstlerischer Traditionen traf. Durch seine Tore öffnete sich der Garten zum Boujloud-Platz, der wie ein offenes Amphitheater unter dem Himmel lag und die Zuschauer verzauberte. Hier zogen Gaukler, Geschichtenerzähler und Musiker die Menschen in ihren Bann, während Schlangenbeschwörer und Akrobaten staunende Blicke auf sich zogen. Hin und wieder verlagerte sich die bunte Szenerie auch zum Platz Bab Makina, der heute, ebenso wie der Boujloud-Platz, eine Bühne für die erhabenen Klänge der Festivals für spirituelle und religiöse Musik ist.
Eines der westlichen Tore des Gartens führt bis heute in die Gasse der Filala-Kabyle. Sie trägt den Namen einer Gemeinschaft aus der Region Filala, die Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts nach Fes-Jdid kam. In dieser engen Passage siedelten sich verschiedene Handwerker und Dienstleister an, die vor allem die einfachen Schichten der Stadtbevölkerung versorgten. Hier arbeiteten Friseure, die Haare schnitten und Bärte rasierten, Schröpfer und Zahnzieher, die ihre Dienste im Freien anboten, sowie Heiler, die direkt am Straßenrand Menschen mit Gicht behandelten.
Zwischen diesen Gassen fanden sich Fotografen mit altertümlichen Kameras, die ihre Kunden vor handgemalten Landschaftskulissen verewigten. Die gesamte künstlerische Prozedur - von der Aufnahme über das Entwickeln bis zur Retusche - wurde hier direkt am Straßenrand vollzogen, sodass die Kunden ihr Bild sofort in Händen hielten. Nicht weit entfernt boten Handwerker handgewebte Kappen in allen Farben und Formen an, die man als Zeichen religiöser Verbundenheit und lokaler Tradition direkt vor Ort kaufen konnte.
Gleich daneben standen die Holzschnitzer mit einer Auswahl an traditionellen Pfeifen, die in verschiedenen Größen und für unterschiedliche Geschmäcker gefertigt waren. Auf Wunsch schufen sie maßgeschneiderte Exemplare, die Kenner später für den Genuss feinster Kräutermischungen nutzten. Entlang der Mauer von Jnan Sabil zur Straße Sidi Majbar hin arbeiteten die Feuerheiler, die mit glühenden Eisenstäben über Kohlebecken hantierten und den Schaulustigen einen Einblick in die Kunst des heilenden Brennens boten. Hier versammelten sich neugierige Passanten, um zu sehen, wie der Heiler die schmerzende Stelle des Patienten mit dem glühenden Metall behandelte.
So war Jnan Sabil nicht nur ein Rückzugsort zum Ausruhen, sondern wurde zu einer lebendigen Bühne, wo sich die Künste und Traditionen des Alltags inmitten der Natur und im Herzen der Stadt widerspiegelten.
Jnan Sabil - Die Wiedergeburt einer Oase der Ruhe
Wie so viele Gärten erlebte auch Jnan Sabil Zeiten strahlender Blüte und des Verfalls. Die hölzernen Schöpfräder, die einst das Wasser durch den Garten leiteten, verstummten, und mit ihnen verschwanden die Cafés, deren Tische und Stühle sich unter den Bäumen verloren, während sanfte Klänge klassischer Musik die Luft erfüllten. Der Zahn der Zeit und die Spuren der Vernachlässigung ließen die einstige Pracht des Gartens allmählich verblassen. Schließlich schlossen sich die Tore des Parks für Jahre, bis er 2012 nach einer umfassenden Restaurierung wieder seine Besucher willkommen hieß.
Unter der Leitung der Stiftung Mohammed VI für Umweltschutz wurden die Spuren der Geschichte vorsichtig bewahrt und doch behutsam erneuert: So ersetzt heute ein modernes, elektrisch betriebenes Wasserrad das alte hölzerne am Flussufer und haucht dem Garten mit seinem sanften Plätschern neues Leben ein. Die Wiedereröffnung ließ Jnan Sabil zu einem Ort wieder erblühen, an dem Geschichte, Natur und die Liebe zur Schönheit der Vergangenheit neu erstrahlen.
Heute ist Jnan Sabil erneut ein beliebter Zufluchtsort für die Bewohner der Stadt, ein stiller Rückzugsort, der vor allem während der intensiven Abiturvorbereitungen den Schülern Ruhe und Konzentration bietet. Der Park ist auch ein beliebtes Ziel für Schulausflüge und Aktivitäten von Bildungsvereinen, die in seiner idyllischen Umgebung einen Ort der Inspiration finden. Sonntagmorgen erfüllt sich der Garten mit den fröhlichen Stimmen der Kinder, die ihre Lieder singen und den Platz mit Leben füllen.
Darüber hinaus zieht Jnan Sabil auch Besucher aus anderen Städten und internationale Touristen an, die die einzigartige Atmosphäre dieses Gartens genießen. In seinen ruhigen Winkeln finden Liebende Zuflucht, die hier unter den ehrwürdigen Bäumen Momente der Zweisamkeit und Besinnung erleben. Jnan Sabil erstrahlt in neuem Glanz und bleibt eine grüne Oase, die Tradition und Moderne in sich vereint und die Herzen der Besucher auf unzählige Weisen berührt.
Autor: Idriss Al-Jay*
Übersetzt aus dem Arabischen und redaktionell überarbeitet durch marokko.com