Habiba auf Jamaa El Fna, „Verbotene Einsichten“ - Jamaâ El Fana zog Habiba immer mehr an
Jamaâ El Fana zog Habiba immer mehr an. Ein Grund war auch "Mikhy“, denn seine Lieder musste man einfach lieben. Die konnte man nur hier hören, kein Radio sendete sie. Es war eine einzigartige Produktion dieses Künstlers. Sie liebte die Melodie, aber auch die Texte, die locker und freizügig waren. Ein Lied, das sie besonders liebte, war: Wie schön sie ist!“ Dieser Satz wurde als Refrain immer wieder von allen Zuschauern wiederholt. Der Sänger besang alle Mädchen Marokkos und gab ihnen je nach Stadt entsprechende Eigenschaften, manchmal auch unpassende oder gar bizarre Eigenschaften. Um die Frauen aus Marrakesch zu provozieren, beschrieb er sie als unbrauchbar im Bett, was natürlich sofort zu großem Protest unter den Zuschauern führte, die er bereits im nächsten Augenblick beruhigte, mit Erklärungen wie: "Das sollte ein Witz sein, meine Großmutter ist aus Marrakesch. Sie ist Marrakschia und ist, ohne zu übertreiben, die schönste Frau der Welt. Der Beweis ist, dass sie Schönheiten wie mich geboren hat (Mikhy war allerdings so hässlich, dass er leicht mit einem Affen verwechselt werden konnte, daher der Spitzname) und auch dieser Marrakschi und dieser (und zeigte dabei mit dem Finger auf zwei alte Männer im Publikum, deren beste Zeit längst vergangen war). Die Heiterkeit erreichte ihren Höhepunkt, als Mikhy Grimassen zog, wenn er bestimmte Personen erwähnte, um seine Abneigung oder Zuneigung zu demonstrieren. Manchmal sah er so monströs aus, dass diejenigen, die ihn zum ersten Mal sahen, glaubten einen Außerirdischen vor sich zu haben.
Wenn Habiba an Jamaa El Fna vorbeiging, schaute sie zu, dass sie sich wenigstens einen Teil der Geschichten anhören konnte, die Jilali, der Märchenerzähler, erzählte. Seine Märchen versetzten sie in eine andere Welt, weit weg von der, in der sie lebte. Sie identifizierte sich mit den Prinzessinnen, denen es an nichts mangelte, stellte sich den Pomp vor, in dem sie lebten, entdeckte ihre Welt ... Sie hörte auch gern die Worte der Liebe, die Jilali im marokkanischen Dialekt hervorhob, selbst wenn es diesen Redewendungen zum Teil an starken Worten der Gefühle mangelte, nicht zuletzt, weil Liebe in verschiedenen Gesellschaftsschichten tabu war und niemand sie zur Schau stellen wollte. Es wurde gar als Schwäche interpretiert, wenn man seinen Eltern oder Freunden seine geheime Liebe verriet. Alles sollte besser im Verborgenen bleiben. Wir können es der geliebten Person sagen, aber bitte, nur unter uns.
Habiba sah gern, wie sich Fremde auf dem Platz küssten und der Welt zeigten, dass sie sich liebten. Sie zeigten ihre Gefühle ohne Scham. Jilali war für sie der erste marokkanische Mann, der dieses Gefühl der Liebe hoffähig machte. Seine Geschichten waren deshalb besonders attraktiv und spannend zu hören. Sie wünschte, sie könnte eines Tages alle seine Geschichten aufschreiben.
Das junge Mädchen mochte auch Komödianten ohne Halqa oder Kreis um sie herum, beispielsweise diejenigen, die auf Jamaâ El Fana herumschlenderten und Leute nachahmten und ihre Darbietung nur wenigen Passanten vorführten, die aus Neugier stehen blieben: Flifla „Pfefferlein“ war dafür ein gutes Beispiel. Dieser Mann von gerade mal 1,5 Meter Größe war ein hervorragender Komiker. Einmal blieb Habiba zusammen mit ein paar Leuten stehen, um ihm zuzuhören. Er erzählte eine Geschichte, bei der er vorgab, die Wahrheit zu sagen: „Gestern“, sagte er, „bin ich sehr spät nach Hause gekommen. Ich fand meine Frau vollkommen nackt hinter einem Teetablett sitzend. Sie wartete auf mich. Ich war verwirrt. Ich wusste nicht, was mit ihr geschehen war. Hatte sie den Verstand verloren, dachte ich. Ich versuchte mich zu konzentrieren, um die Situation besser analysieren zu können. Ich sah sie eine Weile an. Eigentlich starrte ich eher auf ihre Falten. Ihre Haut war stellenweise zwei bis mehrfach gefaltet, sie bildete da und dort mehrere Ebenen. Ihre Brüste sahen wie zwei verbrannte Paprikaschoten aus, die leblos auf ihren schlaffen Bauch fielen. … Ja, ja, murmelte ich vor mich hin, das Leben (die Zeit) kann grausam sein! Mir wurde klar, dass ich diesen Körper, dessen Nähe ich vierzig Jahre lang im Dunkeln genossen hatte, nie wirklich wahrnahm.
Was ist los? fragte ich sie.
Nichts, ich trage nur meinen Liebeskaftan.
Liebeskaftan?
So ist es! Ich war gestern bei unserer Tochter und habe sie gebeten, mir das Geheimnis ihres Eheglücks zu verraten. Natürlich weißt du über die gute Beziehung zu ihrem Ehemann Bescheid. Nicht wie du, du stöhnst ja nur andauernd. Sie teilte mir mit, dass sie vor der Ankunft ihres Mannes ihren Liebeskaftan anzieht.
Mir verschlug es bei dieser Erklärung die Sprache. Ich sagte nichts, ich bin ja auch nicht mehr der Jüngste und Fitteste. Gedacht habe ich aber. „Wie wäre es, wenn man den Liebeskaftan glattbügeln könnte?“
Habiba blieb einmal im Kreis stehen, der sich um einen alten Mann gebildet hatte, dessen weißer Bart sein Gesicht wie einen Heiligenschein umgab. Er trug eine Woll-Djellaba, die ihn besonders edel aussehen ließ. Er sagte mit einer sehr ernsten Stimme, an Männer adressiert: "Ich habe eine narrensichere Lösung für uns Männer, um Frauen gefügig zu machen. Er schwieg einen Moment, schaute den Zuschauern in die Augen. Die Spannung stieg. Plötzlich sagte er mit deutlicher Stimme: "Ihr habt mich überhaupt nichts gefragt? Etwas verdutzt antworteten die Männer, als würden sie nur deshalb dastehen: "Nein! Aber verrate uns bitte das Geheimnis?“ Er antwortete: "Die Lösung seid Ihr, Ihr allein“. Als hätten alle genau verstanden, was gemeint war, lachten alle …
Ein weiterer faszinierter Habiba, nämlich „Moul Lahmam (der Taubenbändiger). Dieser seltsam gekleidete Mann gab seinen Vögeln Befehle, die sie sofort ausführten, wie gehorsame Kinder. Er trug eine Art Patchwork-Djellaba aus verschiedenen bunten Stoffen. Im Kreis seiner Zuschauer bekam man den Eindruck, der Regenbogen stünde mitten auf Jamaâa El Fna. Die Faszination wurde noch größer, wenn er anfing, die Gedichte von Abderrahman El Majdoub vorzutragen, die er auswendig kannte. Abderrahman El Majdoub war ein großer und populärer Dichter des 16. Jahrhunderts, den alle Marokkaner kennen. Er widmete sich der Kritik an der Gesellschaft und seine Worte sind bis heute präsent. Sobald Moul Lahmam sich in eine Art Trance begab und anfing zu sprechen, hörten die Menschen gespannt und interessiert zu.