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Sidi Frej: Geschichte, Mythos und Tradition im Herzen der Altstadt von Fès

Sidi Frej ist ein ganz besonderer Markt in der Altstadt, der wie ein faszinierendes Scharnier zwischen den extremen Gegensätzen fungiert. Hier verschmelzen Geburt und Tod, Bewegung und Ruhe, Anwesenheit und Abwesenheit, Vergangenheit und Gegenwart auf einem Boden, der die fröhlichen Klänge von Festen und die Stille der Gräber in sich trägt. Für jeden, der die heiligen Stätten dieser Stadt erkunden möchte - sei es Einheimische oder Touristen - ist ein Besuch unerlässlich.

Plakat Maristan Sidi Frej, Foto: Eberhard HahneSidi Frej, auch bekannt als Merstan (Merstan stammt aus dem Persischen und bedeutet „Haus der Kranken“.), wurde im 13. Jahrhundert gegründet und diente bis ins 20. Jahrhundert als Krankenhaus und Unterkunft für Bedürftige sowie psychisch Kranke. Er galt als eines der bedeutendsten Merstane in Marokko. Heute befindet sich an dieser Stelle ein Funduq (Handelsgasthaus), in dem verschiedene Geschäfte untergebracht sind.

Inmitten eines verworrenen Netzwerks von Gassen und Wegen, die die Stadt wie ein endloses Labyrinth erscheinen lassen, wirkt äußerlich chaotisch und voller Widersprüche. Doch unter dieser bunten Fassade offenbart sich eine alte, strenge Ordnung. Traditionelle architektonische Muster verweben hier Zeit und Raum so eng miteinander, dass sie sich gegenseitig stützen.

Der nördliche Zugang zu diesem Markt öffnet sich wie ein verborgenes Geheimnis, umgeben von Rätseln und eingehüllt in die Mysterien einer Reise, die tief in die Geschichte vergangener Jahre reicht. Diese Jahre sind hier vorbeigegangen und haben ihre Spuren und Narben an den Schwellen dieses Ortes hinterlassen, verborgen hinter ewigen Vorhängen.

Der Eingang strahlt eine Atmosphäre von Würde, Ehrfurcht und stiller Tiefe aus. Auf beiden Seiten sitzen die „Sahhafa“, die Arbeiter einer traditionsreichen Institution, die sich um die Vorbereitung der Toten für ihre letzte Ruhestätte kümmern. Diese Einrichtung ist seit der Gründung des Marktes hier ansässig. Sargträger lehnen sich entspannt an ihre Tragehilfen und Bretter, als wären sie nie dazu bestimmt, selbst darauf zu liegen. Diese Menschen schöpfen aus dem Tod die Kraft des Lebens und dessen Fortdauer, eine stille Verbindung, die den Kreislauf des Daseins widerspiegelt.

Geduldig sitzen sie da und lesen die Todesnachrichten in den Gesichtern der Vorbeigehenden. In ihren Gedanken formen sich der Lebenszyklus und sein Ende, und ihre Arbeit reflektiert den ewigen Kreislauf des Lebens: das Ende der einen bedeutet den Gewinn der anderen. Doch ihre Anwesenheit hat eine Bedeutung im System dieser Stadt, die einzigartig in ihrer Art ist, mit absoluter Autonomie in allen Aspekten des Lebens. Sie bietet den Einwohnern alles Notwendige, von der Wiege bis zur Bahre.

Am Ende dieses Bereichs standen bis Ende der 1960er Jahre „senkrecht-Tonkrüge“, die als Särge für totgeborene oder früh verstorbene Kinder dienten, im Gegensatz zu den Särgen für verstorbene Frauen. Diese kleinen Tongefäße, bekannt als „Khabya“, wurden normalerweise zur Aufbewahrung von Flüssigkeiten wie Wasser oder zur Lagerung von getrocknetem Fleisch („Khlie“) genutzt. Sie waren nicht glasiert, offen an beiden Enden und wurden „Tagra“ genannt. Der verstorbene Säugling wurde in ein Leichentuch gewickelt und in diesem Krug im Grab beigesetzt.

Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich der westliche Ausgang zu einem Bereich, der von Lebensfreude, Licht und Wasser geprägt ist. In der Mitte des Platzes stehen zwei Bäume, die wie Säulen wirken. Sie könnten aus der Erde gewachsen oder vom Himmel herabgekommen sein. Diese Bäume erinnern an die Geschichte der Gärten des „Maristan“, einem einst blühenden Ort der Erholung für Menschen mit psychischen Erkrankungen sowie für Tiere und Vögel, der seit dem 13. Jahrhundert existiert.

Dieser Platz war auch als „Henna-Markt“ bekannt. Ein Wasserbrunnen, der den Eingang kennzeichnet, ist ein unverzichtbarer Bestandteil alter Märkte. Er wird „Seqayat Sidi Frej“ genannt und wurde im Jahr 1437 n. Chr. erbaut. Der Brunnen ist mit keramischen Mosaiken verziert und hat im Gegensatz zu den meisten anderen Brunnen drei Wasseröffnungen. Rechts davon befindet sich eine Nische mit einer großen Waage. Solche Waagen waren früher wichtig für Märkte, auf denen Waren nach Gewicht verkauft wurden. Dieser Brunnen mit Waage diente sowohl Verkäufern als auch Käufern. Wenn Käufer Zweifel an der Genauigkeit des Gewichts ihrer Ware hatten, konnten sie sie selbst wiegen, um sicherzugehen.

Tonware im Eingang von Sidi Frej, Foto: Eberhard Hahne

Tonvase, Foto: Eberhard HahneDer Henna-Marktplatz bietet eine besondere Atmosphäre mit Gewölben auf beiden Seiten, die mit handgefertigten Töpferwaren gefüllt sind. Viele dieser Waren sind in azurblau bemalt, der Farbe, die Fès repräsentiert. Andere Töpferwaren bleiben in ihrem natürlichen Farbton und werden zusammen mit Bade- und Schönheitsartikeln für Frauen angeboten. Hier vermischen sich die Waren und die verlockenden Düfte von roher und pulverisierter Henna, Orangenblüten- und Rosenwasser sowie den Blättern dieser Pflanzen. Auch Reinigungsmittel und Badezusätze wie Ghassoul, traditionelle Seifen, handgefertigte Bürsten und Waschutensilien sind erhältlich. Kohlstifte und Behälter für den traditionellen „Kayal“-Lidschatten, „L'Akkar L’Beldi (traditioneller Lippenstift)“, Parfums, Räucherwerk, Sandelholz und Weihrauch werden ebenfalls angeboten.

Vor nicht allzu langer Zeit wurden hier noch Harz und Schilfrohrfedern für Schüler der Koranschulen und der Universität al-Qarawiyyīn verkauft. Die Szenerie erinnert an einen orientalischen Basar, wie man ihn aus Filmen über „Tausendundeine Nacht“ kennt. Die Auslagen breiten sich zu beiden Seiten der engen Gassen aus, sodass es schwer ist, die Waren einem bestimmten Geschäft zuzuordnen. Es wirkt, als hätten die ausgestellten Gegenstände keinen klaren Besitzer - sie stehen sowohl für Touristen als auch Einheimische zur Schau: Töpfe, Eisenfenster, Holzbretter, Mosaiktische, dekorative Gefäße und Taschen, die an den Bäumen oder an der Wand der kleinen Moschee lehnen. Diese Moschee verbindet den Platz mit einem alten Funduq, das dem Ort den Namen „Sidi Frej“ gab.

Normalerweise wird dieser Name mit einem Heiligen in Verbindung gebracht, doch hier gibt es kein Grabmal. In der Alltagssprache werden Namen oft verwendet, um positive Assoziationen zu wecken. Der Ort wurde von „Bab al-Faraj“ (Tor der Erlösung) in „Sidi Frej“ umbenannt, wie der Gelehrte Mohammed ibn Jaafar al-Kettani in seinem Werk „Salwat al-Anfas wa Muhadathat al-Akyas biman uqbira min al-Awliya wa-Salihīn bi-Fās“ erklärt. Früher befand sich hier ein Krankenhaus, das Menschen psychische und ihren Familien Unterstützung bot. Einer anderen Überlieferung zufolge beauftragte Sultan Abu Inan von der Meriniden-Dynastie den andalusischen Arzt Faraj al-Khazraji, das Krankenhaus neu zu organisieren und zu verbessern. Der Ehrentitel „Sidi“ wurde in der Volkssprache als Ausdruck des Respekts für Verdienste oder den sozialen, wissenschaftlichen oder religiösen Status einer Person verliehen. Das Sprichwort „Ich nenne denjenigen „Sidi“, „Mein Herr“, der mich befreit hat“ drückt diese Ehrung treffend aus.

Das Gebäude des alten Krankenhauses ähnelt in seiner Architektur den traditionellen Funduqs (Karawansereien) der Altstadt von Fès. Es besteht aus zwei Stockwerken und hat hölzerne Balustraden, die auf einen Innenhof hinausgehen. In der Mitte des Hofes steht ein nicht mehr funktionierender Springbrunnen, der heute von Stapeln traditioneller Tajine (Tontöpfe) bedeckt ist. Früher war der Brunnen von Säulen umgeben, deren untere Teile mit Mosaikfliesen verziert waren, die inzwischen jedoch mit Holz verdeckt sind. Das Erdgeschoss wird heute von Keramik- und Bekleidungshändlern genutzt, während im oberen Stockwerk verschiedene Handwerksberufe ausgeübt werden.

Über sieben Jahrhunderte hinweg diente das Krankenhaus als Unterkunft für Patienten mit psychischen Erkrankungen: Die unteren Räume waren für Männer und die oberen für Frauen bestimmt. Die medizinische Versorgung wurde bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts fortgeführt. Zudem diente das Krankenhaus zeitweise als Gefängnis für straffällige Frauen. In seiner Blütezeit wurde dort sogar Medizin gelehrt, unter anderem von berühmten Persönlichkeiten wie Hassan al-Wazzan (Leo Africanus). Das Krankenhaus galt als Vorbild für ähnliche Einrichtungen im Mittelmeerraum, etwa in Valencia.

Seltene Aufnahme von den Störchen auf Sidi Lazzaz ca.1980, Foto: Eberhard HahneLegenden spielten eine wichtige Rolle bei der Formung des kollektiven Gedächtnisses und schufen eine mystische Verbindung zwischen der Gründung des Krankenhauses und dem Gründer der Stadt Fès. Eine dieser Geschichten erzählt von einem Storch, der ein Schmuckstück im Schnabel trug und es auf der Kuppel des Schreins von Moulay Idris ablegte. Dieses Schmuckstück wurde verkauft, und mit dem Erlös soll das Krankenhaus erbaut worden sein. In seiner Blütezeit behandelte das Krankenhaus nicht nur Menschen, sondern auch verletzte Tiere, insbesondere Störche, die in der marokkanischen Mythologie als heilig galten.

Eine Legende besagt, dass ein Storch einst ein Gelehrter (Fqih) war, der sich mit Milch reinigte. Daraufhin verwandelte Gott ihn in einen Vogel, der die weiße Farbe seines Gewands behielt. In Marrakesch gab es sogar ein „Haus der Störche“ (Dar Belarj), das als Tierklinik für Vögel diente. Die „Zanqat Belarjat“ (Gasse der Störche) ist dort bekannt für ihre vielen Storchennester.

Bis in die 1970er Jahre war auf dem Minarett der Moschee Sidi Lazzaz in der Tala'a, einer großen Straße in Fès, ein prächtiges Storchennest zu sehen. Dieses Nest, zusammen mit dem Minarett der Bou Inania-Madrasa, symbolisierte das harmonische Miteinander von Mensch und Natur. Doch eines Tages ließ ein Minister des Tourismusministeriums das Nest entfernen, weil er es als „Schmutz“ empfand. Zuvor hatte dieser Storch sogar seine eigene religiöse Stiftung (Habous), aber seit der Entfernung des Nestes kehrte er nie wieder zurück.

Es ist bekannt, dass in diesem Krankenhaus jeden Freitag ein Konzert für die Patienten stattfand, als Teil einer Musiktherapie. Der Gesundheitszustand der Patienten wurde anhand ihrer Reaktionen auf die Musik beurteilt. Dr. Abd al-Hadi al-Tazi erwähnt in seinem Buch über die Qaraouiyine, dass die Finanzierung dieser Musikkonzerte, wie auch die der Musikkapelle, aus den Geldern der religiösen Stiftungen (Habous) stammte. Das Krankenhaus Sidi Faraj war nach der Qaraouiyine in Bezug auf Grundbesitz der zweitgrößte und in Bezug auf Gebäude der drittgrößte Empfänger solcher Stiftungen.

Das Nebeneinander von Leben und Tod in diesem Raum - dem Krankenhaus, seinem alten Garten und der Druckerei - ist kein Zufall. Diese Einrichtung kümmerte sich auch um verstorbene Fremde, die weder Familie noch Geld hatten, um ihre Beerdigung zu finanzieren. Sie übernahm die Kosten und sorgte für eine würdevolle Bestattung. Die Wahl dieses geschäftigen Ortes, der von Leben, Krankheit und Tod geprägt war, diente dazu, die Menschen an die Vergänglichkeit zu erinnern.

Auch wenn die Menschen heute aufgrund ihrer vielen Verpflichtungen seltener Gräber besuchen, wie es in einem Hadith des Propheten heißt: „Besucht die Gräber, denn sie erinnern an das Jenseits“, spielt der Beruf des Bestatters immer noch eine wichtige Rolle im Alltag. Er ist in das Leben der Menschen eingebettet, symbolisiert durch die Zeichen am Eingang des nördlichen Marktes.

Autor Idriss Aljay
Übersetzt aus dem Arabischen und redaktionell überarbeitet von marokko.com