Marokko ist meine Heimat
Suzanne Harroch, marokkanische Künstlerin und Forscherin jüdischen Glaubens, zieht mit ihrer bemerkenswerten Interpretation des religiösen Liedes Abyadi Ana, das bis dahin nur von Männern gesungen wurde, die Zuhörer in ihren Bann.
Die Freude über die Annäherung zwischen Marokko und Israel ist groß
Suzanne Harroch: Auch, wenn viele Juden nach der Gründung des Staates Israel Marokko verließen, hat Marokko sie nie verlassen. Marokko ist in ihren Seelen, ihren Herzen und ihren Gewohnheiten. Israelische Juden haben nie aufgehört, Marokko zu besuchen. Nun werden sie, hoffe ich, aufgrund des nun einfachen Reisens zwischen Marokko und Israel in Scharen kommen.
Wir sprechen jetzt von der dritten Generation. Auch, wenn ihre Ureltern nicht mehr unter uns weilen, verstehen und sprechen die Enkelkinder immer noch Darija (Marokkanisch). Hochzeiten marokkanisch-jüdischer Familien aus Israel werden noch gemäß marokkanischen Bräuchen organisiert: mit „orientalischer Musik", Henna-Zeremonie, traditionellen Kaftans und vielem Weiterem, was die marokkanische Kultur zu bieten hat.
Man muss bedenken, dass die marokkanischen Juden, die Marokko verließen, viel gelitten haben. Die besondere Herausforderung lag darin, sich in einem völlig fremden Land mit Menschen aus sämtlichen Kulturkreisen der Welt zu arrangieren. Israel kann so gesehen auch als Schmelztiegel bezeichnet werden. Die Integration in einem völlig fremden Land mit Menschen aus allen kulturellen Gegenden der Welt war für viele eine extreme Herausforderung. Im Laufe der Jahre jedoch konnten sie sich einleben, nicht zuletzt dadurch, dass sie es schafften, ihre Sitten den aschkenasischen Juden nahezubringen, sodass auch diese Teil der israelischen Identität wurden.
Ich habe nie über eine Auswanderung nachgedacht
Ich bin in Erfoud geboren und unter Juden und Muslimen aufgewachsen. Ich kann mir nicht vorstellen, irgendwo anders als in Marokko zu leben, dieses Land hat mir alles gegeben. Marokko ist ein von Gott und von den Rabbinern gesegnetes Land. Schauen Sie sich nur die Anzahl der hier begrabenen Rabbiner an!
Meine Kinder leben in Frankreich, kommen jedoch immer wieder anlässlich der religiösen Feiertage hierher. 90 Prozent meiner Freunde sind Muslime, wir fahren zusammen in den Urlaub, feiern gemeinsam die religiösen Feste, wie Aid Seghir (Das Fest zum Fastenbrechen) und Aid Elkbir (Opferfest).
Mein Vater arbeitete in der Verwaltung, er hat uns im Sinne der Nächstenliebe erzogen. Er sagte oft: „Um respektiert zu werden, muss man die kleinen Leute respektieren.“ Wir Juden in Marokko haben uns immer marokkanisch gefühlt! Stellen Sie sich vor, erst im Alter von 6 Jahren verstand ich, dass es verschiedene Religionen gibt.
Religion war für uns nie ein Hindernis, sondern wir haben immer in Frieden gelebt. Alle Religionen werden mit größtem Respekt vor den anderen praktiziert, wie es der Spruch "Religion für Gott und Heimat für alle" so schön ausdrückt. Marokko ist ein reiches, vielfältiges Land, ein Beispiel für Toleranz, Koexistenz und ein funktionierendes Zusammenleben.
Marokko ist dank der Führung S.M. König Mohammed VI. ein schönes Beispiel für Koexistenz. Er ist ein Vorbild für alle Marokkaner, unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Stellung, Hautfarbe oder religiösen Einstellung.
Musik, Gesang und musikalische Forschung
Vor 2 Jahren beschloss ich etwas Neues zu singen. Ich entschied mich für religiöse Lieder. Lieder, die an die Werte des Zusammenlebens, der Toleranz und des Miteinanders erinnern, die den Geist unseres geliebten Landes Marokko prägen und ausmachen. Auch Lieder für unseren König, unsere Heimat, für Frieden und Toleranz gehören dazu. Ich trete regelmäßig bei Festen auf, bei denen ich religiöse Lieder auf Hebräisch und Darija singe (Lieder für die Hiloula der Tsadikim: jüdischer Brauch, Gräber der Zaddikim am Jahrestag ihres Todes zu besuchen). Ich singe auch sehr gerne das alte Lied „Abiyadi Ana“ auf jüdischen Hochzeiten, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Auch Wiegenlieder von jüdischen Frauen sind vertreten.
In meiner Forschung beschäftige ich mich mit marokkanisch-jüdischer Musik. Bei Feierlichkeiten und Hochzeiten, wurde nach marokkanisch-jüdischer Tradition gesungen. Bei all diesen Gelegenheiten, bat ich die Frauen, mir die Texte der Lieder Wort für Wort vorzutragen, damit ich diese schriftlich festhalten konnte.
Die Lieder dieser jüdischen Frauen berührten mich schon immer. Diese Frauen verfügten über ein einzigartiges Repertoire an Liedern, die sie bei religiösen Zeremonien, Taufen und Hochzeiten, etc. vortrugen.
Ich versuchte immer, die Worte der Lieder zu verstehen, sie sind unglaublich poetisch und weise. Mit meiner Art der Neuinterpretation dieser Songs, will ich ihnen meine Hochachtung erweisen. Diese Frauen waren überwiegend Analphabetinnen und trotzdem schafften sie es, schönste Lieder an die nächste Generation weiterzugeben. Lieder voller Liebe, Demut und Weisheit!
Ein Lied, das mir besonders am Herzen liegt, ist eins, das von Brahim Barakate komponiert und von Adil Filali Sahraoui getextet wurde. Es handelt von der Liebe zum Land und von dem Heimweh derer, die es verlassen haben. Ich widme es allen Marokkanern der Welt.
Siehe auch den Youtube-Kanal von Suzanne Harroch mit Liedern, Interviews und Auftritten |
Erfoud, Rissani bzw. Tafilalet haben einen eigenen Gesangsstil. Als Kind wäre mir nicht in den Sinn gekommen, eines Tages diese Lieder neu zu arrangieren und vorzutragen, das kam erst viel später.
Ziel meiner Forschungen war es, dieses spezielle Erbe zu identifizieren, zu beschreiben und in seinen vielfältigen Formen zukünftigen Generationen zugänglich zu machen. Es wurde bisher nur mündlich überliefert und drohte auszusterben. Das ist ein Teil des marokkanischen Erbes, dass es aufzubewahren gilt. Durch die Unterstützung der Frauen der Region Tafilalet, zu denen ich einen regen Kontakt halte, bin ich sicher, dass dieses Ziel in erreichbarer Nähe liegt.