Jeder hat sein eigenes Grab: Identität im Schwebezustand
Mohamed Nabil erzählt in „Jeder hat sein eigenes Grab“ die Geschichte zweier Schwestern, die sich in einem entscheidenden Moment ihres Lebens gegenüberstehen. Ihr Vater ist gestorben, und die Frage, wo er begraben werden soll, löst einen Streit aus, der weit über eine praktische Entscheidung hinausgeht. Die Schwestern tragen Namen, die ihre Haltung spiegeln: Fatima steht für Herkunft und Verwurzelung, Ahlam - „Träume“ - für Offenheit und Zukunft. Zwischen ihnen öffnet sich ein Raum, in dem Identität nicht mehr selbstverständlich ist, sondern neu verhandelt werden muss.

Alles beginnt mit einer kleinen Geste, einem leisen Aufbruch. Die Entscheidung darüber, wo der Vater seine letzte Ruhe findet, wirkt zunächst alltäglich. Doch schon früh zeigt sich, dass dieser Streit ein tiefer liegendes Gefühl berührt. Es geht nicht um einen Sarg, sondern um die Herkunft, die den Schwestern einst Orientierung gab: das Wissen, wo die Familie stand, welche Traditionen galten und welcher Geschichte sie angehörten. Was früher festen Halt bot, trägt heute nicht mehr. Migration, das Leben zwischen zwei Ländern und die gegensätzlichen Lebenswege der Schwestern haben jene alte Gewissheit brüchig werden lassen. Was einst eindeutig schien, wirkt plötzlich widersprüchlich.
Fatima sucht Halt in der Vergangenheit, in vertrauten Regeln und alten Geschichten. Sie glaubt, dass Identität dort begonnen hat, wo die Familie einst lebte, und dass sie dorthin zurückgehört. Ahlam dagegen wendet sich der Gegenwart zu. Sie sucht nach einem Leben, das sich nicht rückwärtsrichtet, sondern nach vorn. Für sie bedeutet Verantwortung nicht die Rückkehr, sondern der Versuch, das Erbe zu tragen, ohne sich darin zu verlieren. Zwischen ihnen liegt der tote Vater, still und schwer, ein Körper voller Erinnerungen, der zugleich Zweifel auslöst. Sein Tod ist nicht der Kern des Konflikts - entscheidend ist der Raum, den er hinterlässt, jener Raum, in dem sich alles neu sortieren muss.
Dieser Raum ist weder Heimat noch Exil, sondern ein Zustand dazwischen. Kein Ort mit festen Konturen, keine vertraute Erde, sondern eine unbestimmte Fläche, in die die Schwestern ihre Sehnsüchte und Ängste werfen. Ihre Gespräche verlieren in dieser Ortlosigkeit die frühere Sicherheit und gewinnen gerade dadurch eine neue, ungeschönte Klarheit. In ihren Worten zeigt sich, wie sehr sie ihren inneren Halt verloren haben - und wie sehr jede Entscheidung darüber, wo der Vater bestattet wird, zugleich die Frage berührt, wer sie selbst geworden sind.
In diesen angespannten Moment tritt eine weitere Figur auf: Möller, ein Beamter, der über Papiere, Fristen und Paragraphen wacht. Er steht für die nüchterne Seite der Gegenwart, eine Welt der Verwaltung, in der Herkunft nur noch als Formularfeld existiert. Für ihn ist der Tod ein Vorgang, kein Einschnitt. Seine Haltung zeigt die Distanz eines Systems, das weder Trauer noch Zerrissenheit kennt.
Doch Nabil stellt dieser sachlichen Strenge eine andere Form des Ausdrucks gegenüber: den Geist. Er ist keine Person im üblichen Sinn, sondern eine Figur aus Bewegung und Klang, ein körperliches Echo der Gefühle, die die Schwestern nicht aussprechen können. Der Geist singt, ohne dass jemand nach Musik verlangt, und tanzt inmitten einer Welt, die wie angehalten wirkt. In ihm bündeln sich die unausgesprochenen Spannungen des Stücks: die Angst vor Verlust, die Unruhe des Exils, die Sehnsucht nach Zugehörigkeit.
Die Mitte des Stücks gleicht einem Schwebezustand. Es gibt kein Vorwärts und kein Zurück. Der Konflikt bleibt ungeklärt, weil die Schwestern nicht nur über den Vater sprechen, sondern über sich selbst - über das, was sie festhalten wollen, und das, was sie loslassen müssen.

Am Ende verweigert das Stück jede eindeutige Lösung. Kein leuchtender Schluss, keine ordnende Entscheidung. Stattdessen bleibt ein Nachhall, der sich langsam ausbreitet und den Zuschauer noch begleitet, wenn die Bühne längst dunkel ist. Denn „Jeder hat sein eigenes Grab“ erzählt nicht darüber, wo ein Mensch begraben werden soll, sondern darüber, wie Menschen sich selbst neu befragen, wenn Herkunft und Gegenwart nicht mehr zusammenfinden. Das Grab wird zum Bild eines inneren Übergangs, eines Momentes, in dem Identität ihre alten Formen verliert und tastend nach neuen sucht.
So endet das Stück nicht mit einer sichtbaren Bewegung, sondern mit einem leisen Beben. Begraben wird nicht der Körper des Vaters, sondern die frühere Gewissheit, dass die Frage nach dem Ort jemals einfacher zu beantworten gewesen sei als die Frage nach dem eigenen Leben.
Siehe auch
Identität zwischen Heimat und Exil von Idriss Al-Jay