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Handwerkskunst und Tradition: Die faszinierende Welt der Gerbereien

Die Gerbereien von Fès sind tief in der marokkanischen Handwerkskultur und Geschichte verankert. Seit Jahrhunderten stehen sie für die meisterhafte Kunst der Lederverarbeitung.

Dar Dbegh, Foto: Eberhard Hahne

 

Der Begriff „Dar“ ist im marokkanischen Kontext nicht nur ein Begriff für Wohngebäude, sondern kann auch Werkstätten, Fabriken oder handwerkliche Komplexe beschreiben, die spezielle wissenschaftliche oder praktische Tätigkeiten umfassen und einen gemeinsamen Eingang haben. Beispiele hierfür sind „Dar al-Qur'an“ (Haus des Korans), „Dar al-Sikka“ (Haus der Münzprägung), „Dar al-Baroud“ (Haus des Schießpulvers bzw. für die Herstellung von Munition), „Dar al-Silah“ (Haus der Waffen), „Dar al-Bascha“ (Haus des Paschas), „Dar al-Dmana“ (das Haus des Schutzes).

Diese Bezeichnungen sind in verschiedenen Regionen Marokkos bekannt. Unter diesen Häusern sticht eines besonders hervor, das nicht nur in Fes, sondern in ganz Marokko und darüber hinaus große Bekanntheit erlangt hat: das „Dar Dbegh“, das für seine Ledergerbung bekannt ist. In der Vergangenheit umfasste Fès eine Vielzahl solcher Werkstätten.

Die Gerbereien in Marokko, insbesondere die in Fes, zählen zu den ältesten und größten in Afrika. Zur Zeit der Almohaden-Dynastie (1121–1269) wurden die stattliche Anzahl von 86 Gerbereien in Fes gezählt. Während der Meriniden-Dynastie (1244–1465) stieg diese Zahl auf etwa 100. Marokkaner, insbesondere die Bewohner von Fes, brachten die Kunst der Ledergerbung zu höchster Perfektion, sodass marokkanisches Leder über Andalusien bis nach Nordeuropa exportiert wurde. Der Begriff „maroquinerie“ für marokkanisches Leder und „Cordovan“ für das Leder aus Córdoba, das später für die Herstellung von hochwertigem Schuhleders verwendet wurde, leitet sich hiervon ab.

Von der einst großen Anzahl an Gerbereien in der Altstadt von Fès sind heute nur noch drei übrig, die alle „Dar Dbegh“ heißen.

Die älteste dieser handwerklichen Komplexe, spezialisiert auf das Gerben von Tierhäuten, ist Dar Dbegh Kerniz oder Sidi Mussa. Ihre Gründung reicht bis in die Zeit zwischen dem Ende des 11. und Anfang des 12. Jahrhunderts zurück, etwa zwei Jahrhunderte nach der Gründung von Fès im Jahr 789 n. Chr. Sie liegt im Bereich der Quaraouiyine, auf der nordwestlichen Seite, in der Nähe des ursprünglichen Kerns dieses Stadtteils. Diese Gerberei entstand im Zuge der städtischen Erweiterungen, die Fès zu Beginn des 11. Jahrhunderts erlebte, als Reaktion auf den wachsenden Bedarf an gegerbtem Leder.

Die zweite Gerberei ist Dar Dbegh Ain Zliten, die sich ebenfalls im Norden der Stadt in der Nähe des ehemaligen Wohnviertels der Scharfa (Abkömmlinge des Propheten) von Ouezzane (Dar al-Dmana) befindet. Sie ist die kleinste von ihnen und scheint neueren Datums zu sein.

Eine dritte Gerberei befand sich am Platz Rahbat al-Tben, bis der „Wad bin Lemdoun (Fluss zwischen den Städten)“ Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre überdeckt und in eine Straße umgewandelt wurde, die das Zentrum der Altstadt mit den östlichen Vororten verbindet.

Die größte und bekannteste Gerberei, die als eines der Wahrzeichen der historischen Identität von Fès gilt und sowohl bei ausländischen Touristen als auch bei marokkanischen Besuchern beliebt ist, ist Dar Dbegh Chouara. Ibn Abi Zar vermutet in seinem Buch „Rawd al-Qirtas“, dass sie zu Beginn des 14. Jahrhunderts im Jahr 1326 n. Chr. gegründet wurde. Wie die andere Gerbereien ist sie ein Handwerk, das vollständig von Wasser abhängig ist. Dies ist der Hauptgrund, weshalb alle Gerbereien an den Ufern von Flüssen errichtet wurden.

Dar Dbegh Chouara wirkt aus der Vogelperspektive, von einem der benachbarten Gebäude aus betrachtet, wie ein Bienenstock, der vor Aktivität und Leben pulsiert. Runde Bottiche, dicht aneinandergereiht, sind solide gebaut und mit Zellij (traditionellen Mosaikfliesen) ausgekleidet. Dies soll verhindern, dass Flüssigkeiten entweichen. Diese Bodenaushöhlungen, die verschiedene Namen tragen, wie Qasriya, Merkel und Majyar, sind unterschiedlich groß. Zwischen ihnen verlaufen schmale Gänge, die kaum eine Handbreit breit sind. Die Gerber bewegen sich leichtfüßig und schnell hindurch, die Arme schwer beladen mit Häuten, die noch von Flüssigkeiten und Farbstoffen tropfen.

Dar Dbegh, Foto: Eberhard Hahne

Mit seinen bunten, runden Kübeln wirkt Dar Dbegh wie der Malkasten eines Künstlers, wobei die Pinsel jene Männer sind, die in den Bottichen stehen und mit den Füßen die darin schwimmenden Häute stampfen und treten, bis ihre Härte nachgibt.

Einige Bottiche sind leer und zeigen nur die bis zum Rand gefüllten Flüssigkeiten in verschiedenen Farben: Braun, Rot, Gelb, Blau, Orange. Eine spontane Komposition, gemalt durch das Zusammenspiel von Handwerkskunst, der Wirkung der Zeit, dem Sonnenlicht, dem Blau des Himmels und den Wänden, an denen Häute zum Trocknen aufgehängt sind, die wie die Blüten des Oleanders wirken. In anderen Behältern taucht ein Gerber meist bis zur Hüfte ein und wendet die Häute hin und her, um sie von Haaren und Fett zu befreien. In einem anderen Bottich steht ein weiterer Handwerker und schabt die Häute mit einem Messer sauber, entfernt Fett und Schmutz, bis sie rein sind, außen wie innen. Die Vertiefungen sind so klein, dass sie nur Platz für eine Person bieten; nur wenige von ihnen sind groß genug, um zwei Personen aufzunehmen.

Andere Häute sind über dicke Stangen gehängt und tropfen vor Wasser und Farbe, als wären sie vergessen und besäßen keinen Besitzer. Einige liegen im fauligen Wasser der Bottiche, wo sie durch die Einwirkung von Wasser und Laugen weich werden. Sie wirken, als wären sie vernachlässigt, dem Lauf der Zeit überlassen, sodass sich auf der Wasseroberfläche eine pilzartige Schimmelschicht gebildet hat. Diese Werkstätten sind ein Rätsel: Sie sind weder nummeriert noch gekennzeichnet. Wie finden die Handwerker ihre eigenen Bottiche? Wie unterscheiden sie, welche ihnen gehören und welche nicht? Auch die fertigen Häute - in Rosatönen, Gelbbraun und Rot - hängen wie Wäsche zum Trocknen über den Mauern dieser „Zelle“. Wem gehören sie? In diesem menschlichen Bienenstock, wo die Gerber wie Ameisen geschäftig umherwuseln, gibt es keinen Platz für Zufall oder Glück. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, denn die Häute brauchen Wochen harter Arbeit, um gebrauchsfertig zu werden.

Es ist ein faszinierender Anblick, der auf den ersten Blick nur Wasser und Sauberkeit zeigt, doch in Wirklichkeit so viel Fäulnis und Gestank birgt, dass feine Nasen ihn kaum ertragen können. Trotzdem hat dieser Anblick dieses historischen und einzigartigen Ortes, der nicht nur in der Stadt Fès, sondern weltweit seinesgleichen sucht und die Erinnerung in die Tiefen der Vergangenheit und in eine mythische Atmosphäre entführt, eine Reihe von Filmregisseuren, sowohl von Spielfilmen als auch von Dokumentarfilmen, dazu inspiriert, in seiner weiten und bunten Kulisse surreale Szenen zu drehen - wie Aufnahmen von fantastischen Welten, die nicht zu unserer Gegenwart gehören. Dieser Ort wurde schon lange von Filmemachern genutzt, wie etwa vom Regisseur Michel Boisrond im Jahr 1967 im italienisch-französischen Spielfilm „Der goldene Schlüssel (Originaltitel: L’homme qui valait des milliards)“. Auch andere Filmemacher wurden angezogen, um hier ihre Dokumentaraufnahmen zu machen. Denn wenn man über das Kunsthandwerk in Fès spricht, kann man nicht umhin, auf dieses Handwerk einzugehen, das das Rückgrat vieler traditioneller Handwerke darstellt.

Dar Dbegh, Foto: Eberhard Hahne

Der Komplex von Chouara besteht aus zwei voneinander unabhängigen Gerbereien, die sich in Produktion und Form unterscheiden, aber einen gemeinsamen Eingang haben. Der größere Bereich, der als "Dar al-Kbira" (das große Haus) bekannt ist, ist auf die Gerbung von Rinder-, Schaf- und Kamelhäuten spezialisiert. Der kleinere Bereich, "Dar al-Sghira" (das kleine Haus), ist auf die Gerbung von Ziegenhäuten spezialisiert, die zur Herstellung der gelben „Balgha“-Schuhe verwendet werden. Diese Art von Leder wird "Ziwani" genannt. Eine weitere weiche Leder-Art, die hier verarbeitet wird, heißt "Btana Metluqa". Eine Leder-Art, die früher hier produziert wurde, hieß "Inan" und wurde zur Herstellung von Zügeln und Sätteln für Pferde verwendet.

Während die Architektur der der Gerbbottiche (in der Sprache der Gerber "Mejyar" genannt) von Dar al-Kbira aus runden Gruben besteht, deren Ränder Flüssigkeiten in allen Farben durchsickern lassen, haben die Bottiche von Dar al-Sghira eine quadratische Form, und die dominierende Farbe ist Weiß, in dem die gelben Ziegenhäute von hoher Qualität gegerbt werden. Laut historischen Quellen war die Gerberei ein bedeutender Industriezweig und ein wirtschaftlicher Motor der Stadt. Aufgrund ihrer hohen Qualität erreichten die Lederprodukte aus Fès einst viele Handelszentren in Afrika, Europa und der islamischen Welt.

Die Gerberei steht im Zentrum einer Reihe von Berufen, die entweder von ihr abhängen oder auf sie angewiesen sind.

Alles beginnt mit der Landwirtschaft und Viehzucht, die die Schlachthöfe mit Tieren beliefern. Diese wiederum liefern die Schafshäute, „Btana“ genannt (Plural von "Btaien"), an das Handwerk der "Lebbata", das sich auf das Säubern und das Enthaaren der Schafshäuten spezialisiert hat. Von dort gelangen die Häute schließlich zu den Gerbern. Das gegerbte Leder bildet die Grundlage für zahlreiche Handwerksberufe, die sowohl Gebrauchsgegenstände wie Schuhe, Taschen, Gürtel und Sitzbezüge als auch Luxusartikel wie Wohn- und Ladenaccessoires herstellen.

Um weiches Leder zu erhalten, durchlaufen die Häute einen außergewöhnlich aufwendigen Prozess: Zunächst werden die Häute für drei aufeinanderfolgende Tage in ungelöschtem Kalk, Urin, Wasser und Salz fermentiert. Gefolgt von Taubenkot, damit sie weich und aufnahmefähig für die natürlichen Farbstoffe werden, in denen sie für mehrere Wochen eingelegt werden. Zu diesen Farbstoffen gehören u.a. Henna, Granatapfelschalen, die Pflanze Takaout, Mohn und Indigo-Stein. Heute jedoch sieht sich dieses Handwerk einer starken Konkurrenz durch Maschinen und chemische Verfahren ausgesetzt, was dazu geführt hat, dass die Zahl der in diesem Beruf Tätigen deutlich zurückgegangen ist. Außerdem haben die Gerber in ihrem Bestreben, die Produktionszeit zu verkürzen und die Kosten zu senken, teilweise selbst schädliche und umweltgefährdende Chemikalien in ihre Arbeit eingeführt.

„Sie hat weder einen Gerber noch einen Weber geheiratet."

so lautete ein Sprichwort, das unter den Familien in Fès als Zeichen für die materielle Sicherheit einer Frau verbreitet war, denn früher war das Gerberhandwerk ein wohlhabendes Gewerbe, und die Gerberei wurde „Haus des Goldes“ genannt, wegen der Gewinne, die es den Handwerkern einbrachte.

Die Gerber erfüllten neben ihrem Handwerk auch soziale Aufgaben: Sie agierten wie Feuerwehrleute und halfen, zusammen mit den Wasserträgern, Brände in der Stadt zu löschen. Sie waren auch dafür verantwortlich, das Grabmal von Moulay Idris jeden Donnerstagabend zu reinigen und das Blut der geopferten Tiere, die dem Heiligen geschenkt wurden, zu beseitigen. Um diese Aufgaben zu erfüllen, brachten sie ihre eigenen Eimer aus der Gerberei mit.

Die Gerberei vereinte verschiedene Gesellschaftsschichten des alten Fès, sowohl Reiche als auch Arme und neu Hinzugezogene. Ein Großteil der Gerber war in religiösen und künstlerischen Gruppierungen eingebunden.

Politische und Gesellschaftliche Rolle der Gerber

Dar Dbegh, Fotogalerie mit beeindrucken Bildern von Eberhard HahneEs ist kein Zufall und auch keine Überraschung, dass die Gerberei von Chouara von zahlreichen heiligen Stätten für Sufi-Großmeister umgeben ist, die den festen Glauben an den Segen der Heiligen und frommen Männer widerspiegeln.

Die Gerber sind für etliche politische und gesellschaftliche Einflüsse bekannt, da ihre Berufstätigkeit sowohl wirtschaftliche Macht als auch eine starke Präsenz in religiösen und künstlerischen Gemeinschaften verkörperte.

Die Gerber spielten auch bei allen nationalen Demonstrationen eine wichtige Rolle und entzündeten die Flamme der Massenmobilisierung, wie bei den Demonstrationen von 1944 und 1953, wo sie als treibende Kraft in allen gesellschaftlichen Schichten agierten. Einige von ihnen bezahlten ihren Einsatz für diese Aufstände mit ihrem Leben.

Autor Idriss Aljay
Übersetzt aus dem Arabischen und redaktionell überarbeitet durch marokko.com