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Der freie Geist und die Wahrheit - eine Philosophie der Klarheit

Abdelhak Najib legt mit diesem Essay einen philosophischen Text vor, der in unserer Gegenwart eine überraschende Klarheit entfaltet. Er liefert zunächst eine moralische Diagnose der heutigen Gesellschaft: nicht einzelne Fehlentwicklungen oder politische Missstände stehen im Vordergrund, sondern ein grundlegender Verlust innerer Haltung. Der Mensch von heute, so argumentiert Najib, ist verletzlich, manipulierbar und bequem geworden und sucht nicht mehr nach Wahrheit, sondern nach kurzfristiger Anerkennung. Dabei schildert er keine individuelle Schuld, sondern eine Atmosphäre alltäglicher Kleinheit, in der die Gemeinheit als Stärke gilt und das Gewissen zum Hindernis geworden ist.

Der freie Geist und die Wahrheit. Foto mit Hilfe von  ChatGPT erstellt

Abdelhak Najib

Der freie Geist weiß zu unterscheiden zwischen dem, was gut ist, und dem, was schlecht ist. Er billigt keinerlei Missbrauch, keine Grausamkeit und keine Verbreitung der Angst. Er stellt sich schützend gegen alles, was den Menschen erniedrigt und ihn auf das Maß eines bloßen Verächters reduziert.

„Starke Menschen schaffen wohlhabende Zeiten. Wohlhabende Zeiten schaffen schwache Menschen. Und schwache Menschen schaffen schwierige Zeiten“, schrieb Ibn Khaldun vor über 700 Jahren. Was für vergangene Jahrhunderte galt, gilt auch heute - mit einem entscheidenden Unterschied: Die Menschen von heute sind verletzlicher, manipulierbarer und schwächer - sowohl durch äußere Umstände als auch durch andere Menschen. Sie sind bequemer, scheuen jede Herausforderung, die sie fördern könnte, und versinken in einer abgründigen Seelenkleinheit. Wir stellen es täglich fest, auf allen Ebenen, in unzähligen Situationen und aus vielen Gründen, doch stets mit derselben Konstante: Die Gemeinheit dominiert und zieht alles hinab - hinunter auf das Niveau der Gosse.

Heute wird der Wert eines Menschen daran gemessen, wie viel Schaden er anrichten kann. Wer zum schlimmsten Handeln fähig ist, gilt als Vorbild. Der Lügner ist ein Weise, der Betrüger ein Schlauer, der Fälscher ein Genie, der Trickser ein Gerissener. Wer stiehlt, gilt als Virtuose. Wer andere täuscht, wird zum gewieften Intriganten.

„Der tugendhafte Mensch ist derjenige, der niemandem schadet, selbst wenn er dazu imstande wäre“, schrieb Ar-Razi. Doch heute, wenn du niemandem schadest, gehörst du nicht mehr dazu. Man muss dem Bösen in all seinen Formen freien Lauf lassen, um einen Platz in der Gesellschaft zu beanspruchen. Und je mehr du tust, desto mehr fürchtet man dich - und mit wachsender Furcht schmelzen die Grenzen dahin wie Schnee in der Sonne, bis schließlich alle Hemmungen fallen und aus dem Leben anderer ein offenes Höllenreich gemacht wird.

Das veranlasste Al-Ma‘arri zu sagen: „Der freie Geist braucht keine versprochene Belohnung und keine Angst vor Strafe, um gerecht zu handeln.“

Der freie Geist weiß zu unterscheiden zwischen dem, was gut ist, und dem, was schlecht ist. Er billigt weder Missbrauch noch Grauen noch Terror. Er steht als Schutzwall gegen alles, was die Menschlichkeit herabsetzt und den Menschen auf kleinliche Niedertracht reduziert. Der freie Geist bewegt sich in der Höhe, während jener Mensch, der jederlei Vorteil, falschen Ehren, trügerischen Erscheinungen und prahlerischen Lügen hinterherjagt, sich im Morast wohler fühlt. Es ist sein Gebiet, sein Kennzeichen. Wohin er auch geht, er zieht den Geruch von Fäulnis und Verderbnis hinter sich her.

„Das Herz ist wie ein Spiegel: Wenn es trüb wird, spiegelt es die Wahrheit nicht mehr wider“, sagte Al-Ghazali, der die dunklen Seiten der menschlichen Seele kannte. Und wie sehr wir uns auch bemühen, zu tricksen, zu verfälschen, zu verschleiern und zu lügen, die Wahrheit bleibt Wahrheit, und die Tatsachen bleiben Tatsachen - selbst wenn man sie verbirgt.

Erinnern wir uns hier an die weise Aussage von Ibn Sina: „Die Wahrheit setzt sich von selbst durch. Sie braucht keinen Zierrat.“ Die Wahrheit ist leuchtend. Ihr Licht strahlt. Sie benötigt weder Kunstgriffe noch Werbung. Die Wahrheit bleibt unveränderlich. Sie kann sich entwickeln, sie kann sich durch die Zeit vervollkommnen, durch den Fortschritt des Denkens - doch sie bleibt eine und unteilbar. Die Wahrheit verträgt keinen Schatten.

„Wir müssen jenen danken, die uns einen Teil der Wahrheit überliefert haben, denn jeder hat uns einen Funken geschenkt, der gemeinsam unseren Weg erhellt“, betonte Al-Kindi. Dieses Licht ist unerreicht. Es erhellt unerforschte Wege, macht das Trübe klar und lässt den Blinden sehen, was nur die geistige Schau erkennen kann.

Man kann die Wahrheit verdecken - sie tritt am Ende doch hervor. Man kann sie begraben - sie treibt erneut aus, verzweigt sich und wächst. Die Wahrheit ist widerständig. Sie beharrt. Sie drängt. Am Ende erfüllt sie den gesamten Raum und blendet jene, die sie verstellen wollten.

Dieser Weg zur Wahrheit - der immer zugleich ein Weg zu sich selbst ist - verlangt Zurückhaltung, Maß und die Fähigkeit, über den vulgären Verlockungen der Gesellschaft zu stehen, über dem Geschrei und den verkündeten falschen Prophezeiungen. Die Wahrheit fordert zuallererst Maß und Selbstbeherrschung und den Mut, jede Form von Kompromiss abzulehnen.

Al-Kindi sagte vor Jahrhunderten zu Recht: „Wer seine Leidenschaften beherrscht, ist stärker als derjenige, der eine Stadt erobert.“ Denn alles vergeht. Die glanzvollste Eroberung endet im Verfall. So viele Großtaten wurden zu Ruinen, so viele Reichtümer endeten in Elend und Schande. Wahrhaft selten sind die Siege über sich selbst und die Welt - trotz all dessen, was den festen Willen beugen könnte, wenn man die Wahrheit über alle irdischen Güter stellt.

Und darin liegt der mögliche Sinn des Glücks: „Das wahre Glück ist das höchste Ziel des Menschen, und es kann nur durch die Vollendung der Seele erreicht werden“, wie Al-Farabi präzisierte. Es geht nicht um irgendeine perfektionistische Suche, sondern um jene, die die Menschenseele erhebt und sie zu ihrem besten Selbst führt. Dieser Weg zur besten Version seiner selbst ist der Weg zur eigenen seligen Wahrheit - der eines Menschen, der sich weigert, mit dem allgegenwärtigen Bösen zu paktieren, in Gesellschaften, die alle Werte verkaufen für das Falsche, Illusorische, Trügerische…

Das verlangt etwas Einfaches - und doch Schweres: „Der Mensch ist ein Wesen auf der Suche nach Sinn, und Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Weisheit“, schrieb Ibn Sina. Der Sinn des Lebens entspringt dieser Suche nach persönlicher, innerer Weisheit, geformt aus eigenen Erfahrungen, Fehltritten, Niederlagen und Sackgassen. So können unsere Leben zu Wegen unserer eigenen Bildung werden: „Ziel der Bildung ist es, die Tugenden der Seele zu vervollkommnen; denn durch sie wird der Mensch wahrhaft menschlich“, vertraute uns Al-Farabi an.

In diesem Verständnis kann alles in unserem Leben zum Lehrer werden. Doch nichts ist wertvoller als das Wissen, das aus Erfahrungen entsteht - jene Erkenntnis, die aus unserem Handeln erwächst. „Wissen, das nicht zum Handeln führt, ist eine Last, und Handeln ohne Wissen ist ein Irrtum“, erklärte Al-Ghazali.

 


Glaswuerfel. Foto mit Hilfe von  ChatGPT erstellt

Nachdem Abdelhak Najib diese Diagnose formuliert hat, zeigt er, worin er die eigentliche Ursache des Problems sieht: nicht in äußeren Umständen oder politischen Systemen, sondern in der inneren Disposition des Menschen. Der Essay betont, dass sich Wahrheit und Charakter nicht durch äußere Regelungen herstellen lassen. Sie entstehen im Inneren des Einzelnen - im Gewissen, in der Selbstbeherrschung und im beständigen Willen, sich nicht der Leichtigkeit und dem moralischen Verfall hinzugeben.

Die Zitate großer Denker aus der islamischen Geistesgeschichte dienen dabei nicht als nostalgische Rückgriffe auf verlorene Zeiten, sondern als lebendige Referenzen. Ibn Khaldun erklärt zyklische gesellschaftliche Entwicklungen, Al-Ghazali beschreibt den Spiegelcharakter des Herzens, Ibn Sina und Al-Kindi diskutieren Wesensmerkmale der Wahrheit, und Al-Farabi zeigt, wie seelische Vollendung mit Glück zusammenhängt. Durch diese Verweise macht Najib deutlich, dass seine Kritik nicht zufällig oder individuell gefärbt ist. Vielmehr knüpft er an eine jahrhundertelange Debatte darüber an, wie Menschen gerecht, mutig und wahrhaft leben können.

Der Text wirkt daher nicht nur wie eine moralische Anklage, sondern wie eine Einladung. Eine Einladung, das eigene Leben nicht an fremden Urteilen auszurichten, sondern an grundlegenden Werten: Maß, Aufrichtigkeit, Selbstdisziplin und die Fähigkeit, innere Klarheit über äußeren Vorteil zu stellen. Die Forderung nach „Maß und Selbstbeherrschung“ ist in diesem Kontext nicht konservativ oder weltabgewandt, sondern ein Akt geistiger Unabhängigkeit. Najib stellt damit eine sehr moderne Frage: Ist Freiheit ohne moralische Orientierung überhaupt möglich?

Im weiteren Verlauf zeigt der Essay, dass Wahrheit nicht einfach eine abstrakte Idee ist, sondern eine Lebenshaltung. Sie braucht keinen Zierrat, keine Werbung, keinen Beifall. Wahrheit setzt sich langfristig durch, auch wenn sie verdrängt, verfälscht oder verschwiegen wird. Für Najib liegt hierin eine stille, aber kraftvolle Hoffnung: Die Wahrheit hat Ausdauer. Sie drängt zur Oberfläche, auch wenn sie im gesellschaftlichen Diskurs übertönt wird.

Die Wirkung dieses Textes liegt gerade in seiner Ruhe. Er argumentiert nicht laut und zeigt nicht mit dem Finger auf bestimmte Gruppen oder gesellschaftliche Bereiche. Stattdessen richtet er den Blick nach innen: Wer bin ich, wenn ich nicht beobachtet werde? Welche Wahrheit verschweige ich mir selbst? Damit wird der Essay zu einem Spiegel. Er konfrontiert uns mit der Frage, ob wir uns mit der Bequemlichkeit zufriedengeben wollen oder ob wir den anspruchsvolleren Weg der Selbstreflexion einschlagen.

Am Ende steht ein Vorschlag, der zugleich einfach und schwer ist: Die Veränderung beginnt beim Einzelnen. Wahrheit, Integrität und innere Stärke sind keine abstrakten Begriffe, sondern alltägliche Entscheidungen. Najib erinnert uns daran, dass echte Freiheit nicht darin besteht, alles tun zu dürfen, sondern darin, das Richtige zu wählen, selbst wenn niemand hinsieht.