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Überfluss, Mangel und die bequeme Ordnung der Welt

In seinem Essay analysiert Mounir Lougmani die globale Gleichzeitigkeit von Überfluss und Mangel ohne moralische Überhöhung und ohne falsche Empörung. Der Text überzeugt durch seine ruhige Konsequenz und durch den Versuch, bekannte Tatsachen neu zu ordnen, statt sie lediglich zu wiederholen. Lougmani beschreibt Armut nicht als Randphänomen, sondern als strukturellen Bestandteil einer Weltordnung, die von Gewöhnung lebt und Menschen auf unterschiedliche Weise in ihrer Selbstbestimmung einschränkt.

Mann schaut von der Anhöhe auf die wohlhabende Stadt. Bild mit Hilfe von Gemini erstellt

Armut ist ein Thema, über das viel gesprochen wird und das dennoch selten wirklich berührt. Das Erstaunliche ist nicht, dass es Armut gibt. Erstaunlich ist, wie selbstverständlich sie geworden ist. Sie erscheint in Nachrichten, Statistiken und politischen Reden und verschwindet wieder, ohne nachhaltige Irritation auszulösen. Was einst als Ausnahme galt, wird heute als fester Bestandteil der Weltordnung akzeptiert und entzieht sich damit zunehmend der Frage nach Verantwortung.

Tag für Tag begegnet uns dasselbe Bild, so vertraut, dass seine Grausamkeit kaum noch wahrgenommen wird. Überfluss ist sichtbar, präsent, offen ausgestellt. Gleichzeitig bleiben viele auf Distanz, gezwungen zuzusehen. Äußerlich trennt beide Seiten oft nur wenig, doch in der Sache liegt eine tiefe Kluft dazwischen. Auf der einen Seite stehen jene, die Zugang haben, auf der anderen jene, die strukturell vom Handeln ausgeschlossen sind. Es geht nicht um kurzfristige Not oder vereinzelten Mangel, sondern um eine Realität, in der Reichtum konzentriert und Entzug systematisch erzeugt wird. Was hier sichtbar wird, ist kein Ausnahmezustand, sondern ein dauerhaftes Muster, verborgen hinter Zahlen und Berichten, dessen Folgen sich schmerzhaft in die Seelen jener einschreiben, denen das Recht auf ein würdiges Leben verwehrt bleibt.

Armut erschöpft sich dabei nicht im Fehlen materieller Mittel. Sie beschreibt einen Zustand umfassenden Entzugs, der Wahrnehmung, Erwartung und Handlungsspielräume verändert. Wird dieser Zustand zum Normalfall, verschiebt sich der Blick auf die Welt. Dinge verlieren an Bedeutung, Zukunftsvorstellungen verengen sich. Wer so lebt, nimmt die Realität nicht unverstellt wahr, sondern aus der Enge dauerhafter Verletzlichkeit heraus. In diesem Sinne weist Armut trotz sehr unterschiedlicher Lebenswege eine gemeinsame Erfahrung des Entzugs auf. Auch jene, die durch Krieg, politische Gewalt, Verfolgung oder den Verlust ihrer Lebensgrundlagen aus ihrer bisherigen Existenz gedrängt wurden, teilen diese Erfahrung eines grundlegenden Entzugs.

Dabei mangelt es nicht an Ressourcen. Die Erde ist reich und verfügt über Rohstoffe, fruchtbare Flächen und Möglichkeiten, die weit über das hinausgehen, was nötig wäre, um alle Menschen zu versorgen. Dennoch leben Millionen dauerhaft am Rand dieses Überflusses. Der Widerspruch ist offensichtlich. Auf der einen Seite enorme Mittel, auf der anderen ein Leben unter Bedingungen, die Sicherheit und Perspektive untergraben. Die Ursache liegt nicht in der Natur, sondern in historisch gewachsenen Strukturen der Ausbeutung, die Reichtum abfließen lassen und jene zurücklassen, die ihn mit hervorbringen oder von ihm abhängig gemacht wurden.

Jenseits aller wohlklingenden Parolen wirkt ein globales System, das Rollen klar verteilt. Einige Länder profitieren dauerhaft, andere sind auf die Funktion billiger Lieferanten, Rohstoffquellen oder Pufferzonen reduziert. Ungleiche Verträge, einseitige Marktöffnungen und Entscheidungen, die fernab derjenigen getroffen werden, die ihre Folgen tragen, prägen dieses Gefüge. Ausschluss erscheint hier nicht als Fehlentwicklung, sondern als stilles Organisationsprinzip, das über Generationen hinweg reproduziert wird und unterschiedliche Formen des Entzugs hervorbringt.

An dieser Stelle lässt sich Migration nicht ausklammern, auch wenn sie nur einen Teil der beschriebenen Realität betrifft. Sie ist keine selbstverständliche Reaktion auf Armut oder Entzug. Die meisten Menschen bleiben, selbst unter schwierigen Bedingungen. Sie versuchen, ihr Leben vor Ort zu ordnen, sich anzupassen, durchzuhalten oder Sinn und Zufriedenheit innerhalb begrenzter Möglichkeiten zu finden. Migration ist nicht der Normalfall, sondern eine Entscheidung unter Druck, oft gegen den eigenen Wunsch nach Verbleib.

Dort jedoch, wo Armut sich mit Krieg, autoritärer Herrschaft, politischer Verfolgung, Klimaveränderungen, dem Verlust von Lebensgrundlagen oder Epidemien verbindet, kann das Bleiben seine Tragfähigkeit verlieren. Migration entsteht in diesen Fällen nicht aus Aufbruchslust, sondern aus der Erfahrung, dass Sicherheit, Rechte und Zukunft schrittweise entzogen werden. Armut wird hier zur gemeinsamen Erfahrung eines umfassenden Verlusts, unabhängig davon, ob ihre Ursachen ursprünglich ökonomischer, politischer oder ökologischer Natur sind. Die Wege sind gefährlich, doch sie erscheinen vielen als letzter Ausweg aus einer Situation, die keine Handlungsoptionen mehr lässt. Viele kommen nicht an. Und jene, die ankommen, erleben sehr unterschiedliche Realitäten, von gelungener Integration und neuer Stabilität bis hin zu Unsicherheit, Ausgrenzung und einem nur eingeschränkt anerkannten Recht auf Teilhabe.

Gleichzeitig setzt ein Prozess der Gewöhnung ein. Meldungen über Tote, Ertrunkene und Vertriebene häufen sich, doch ihre Wirkung nimmt ab. Was einst Entsetzen auslöste, wird Teil des Nachrichtenalltags. Leid und Tod erscheinen als wiederkehrende Ereignisse, eingeordnet zwischen Wetterbericht und Börsenkursen. Diese Normalisierung ist kein Zufall. Sie verweist auf eine Verschiebung der Maßstäbe, in der menschliches Leben an Gewicht verliert. Wo das Leben relativiert wird, lassen sich auch die Ursachen seines Entzugs leichter ausblenden oder rechtfertigen.

Allzu oft wird Verantwortung an Natur oder Schicksal delegiert. Doch das Geschehen ist menschengemacht. Die Ursachen liegen in konkreten Entscheidungen, in ausgrenzenden Entwicklungsmodellen und in Denkweisen, die den Menschen auf eine Größe in einer Rechnung reduzieren. Veränderung ist möglich, aber sie verlangt Konsequenz. Sie erfordert politische Entscheidungen und die Bereitschaft, Gerechtigkeit nicht nur zu benennen, sondern durchzusetzen.

Ungleichheit ist kein Schicksal. Sie entsteht durch Entscheidungen und kann nur überwunden werden, wenn sie politisch und gesellschaftlich nicht länger hingenommen, sondern aktiv bekämpft wird.