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Die Tiefsee als Gedächtnis der Menschheit - Ein Kulturerbe in Gefahr

Die Tiefsee birgt nicht nur einzigartige Ökosysteme, sondern auch ein jahrtausendealtes kulturelles Erbe, das zunehmend in den Fokus internationaler Verhandlungen rückt. Während Staaten und Unternehmen die wirtschaftliche Nutzung der Meeresböden vorantreiben, warnen Wissenschaftler, Umweltschützer und indigene Gemeinschaften vor den irreversiblen Folgen für historische Zeugnisse, von versunkenen Schiffen bis hin zu immateriellen Traditionen.

Die Tiefsee als Gedaechtnis der Menschheit, Foto mit Hilfe von ChatGPT erstellt

Die laufenden Debatten über den zukünftigen Tiefseebergbaukodex werfen die Frage auf, ob der Schutz dieses Unterwasser-Erbes mit dem der marinen Biodiversität gleichgestellt werden sollte - und ob das internationale Recht diesem Anspruch gerecht werden kann.

Das Unterwasser-Kulturerbe ist das lebendige Gedächtnis der Generationen, die uns vorausgegangen sind. Dessen Bewahrung muss eine ebenso hohe Priorität haben wie der Schutz der marinen Biodiversität“, erklärte Salim Lahsini, Vertreter Marokkos im Namen der afrikanischen Staaten, während der derzeit in Jamaika unter der Schirmherrschaft der Internationalen Meeresbodenbehörde (ISA) geführten hitzigen Debatten.

Während die Verhandlungen über den zukünftigen Tiefseebergbaukodex an Intensität gewinnen, fordern sowohl Umweltaktivisten als auch Vertreter indigener Völker, dass diese verborgenen Territorien nicht allein unter dem Aspekt wirtschaftlich verwertbarer Ressourcen betrachtet werden, sondern auch als Bewahrer eines jahrtausendealten menschlichen Erbes. Ob es sich um gesunkene Schiffe, Spuren des transatlantischen Sklavenhandels oder um die spirituelle Verbindung handelt, die einige Inselkulturen mit dem Meer pflegen - dieses materielle und immaterielle Erbe steht heute im Zentrum eines juristischen und philosophischen Ringens um die Zukunft der Tiefsee.

Ein bedrohtes Erbe angesichts wirtschaftlicher Begehrlichkeiten

Seit Jahren warnen Wissenschaftler und Umweltschützer vor den Risiken einer großflächigen industriellen Ausbeutung der Tiefsee, die zu einer irreversiblen Zerstörung mariner Ökosysteme führen könnte. Doch das Problem geht weit über den reinen Erhalt der biologischen Vielfalt hinaus: Für zahlreiche indigene Gemeinschaften und Völkerrechtsexperten bergen die Tiefen der Ozeane auch essenzielle Zeugnisse der Menschheitsgeschichte.

Unsere Vorfahren durchquerten seit Jahrtausenden die Ozeane und gaben ihr Wissen von Generation zu Generation weiter“, erinnert Hinano Murphy von der Tetiaroa Society, einer polynesischen Naturschutzorganisation. „Wir sind die Kinder der Meeresvölker, und dieses Erbe muss als heilig anerkannt werden.“ Vor diesem Hintergrund setzt sich eine Staatengruppe unter der Führung Mikronesiens für eine erweiterte Definition des Unterwasser-Kulturerbes ein. Diese soll nicht nur materielle Überreste - gesunkene Schiffe, versunkene Ladungen, menschliche Gebeine - umfassen, sondern auch überliefertes Wissen über die Navigation und spirituelle Praktiken, die mit dem Ozean verbunden sind. Eine solche Anerkennung würde eine wesentliche Weiterentwicklung des Seerechts darstellen, das bislang wenig Aufmerksamkeit für diese immateriellen Aspekte aufbrachte.

Insbesondere der Atlantik birgt die stummen Zeugnisse eines tragischen Kapitels der Vergangenheit. „Zahlreiche Sklavenschiffe gingen während der Überfahrt unter. Und diejenigen, die an Bord starben, wurden oftmals ins Meer geworfen“, erinnert Lucas Lixinski, Professor für Rechtswissenschaften an der Universität von New South Wales in Australien.

Diese versunkene Vergangenheit, so betont er, ist ein integraler Bestandteil des Unterwasser-Kulturerbes und untrennbar mit unserer Geschichte verbunden. Zwar kann die Entdeckung eines Schiffswracks theoretisch zur vorübergehenden Aussetzung von Bergbauaktivitäten führen, doch der Schutz immaterieller Aspekte dieses Erbes gestaltet sich ungleich schwieriger.

Ein Lösungsansatz wäre die Einführung eines verpflichtenden „Prüfmechanismus“ vor jeder Bergbauaktivität. Dabei käme es den indigenen Gemeinschaften und Anthropologen zu, zu bewerten, ob eine geplante Rohstoffgewinnung die kulturellen Verbindungen zur Tiefsee in unzumutbarer Weise beeinträchtigen würde.

Ein unsicherer rechtlicher Rahmen

Die von Mikronesien eingebrachte Initiative schlägt zudem die Einrichtung eines spezialisierten Ausschusses vor, in dem auch Vertreter indigener Völker mitwirken sollen, um die ISA in ihren Entscheidungen zu unterstützen.

Charlotte Jarvis, Unterwasserarchäologin und Mitglied der NGO The Ocean Foundation, betont, dass es bereits bewährte Methoden zum Schutz materieller Überreste gibt: „Wir sind in der Lage, Wracks anhand bathymetrischer Daten zu identifizieren, und verfügen über ausgereifte Verfahren, um diese Informationen systematisch zu erfassen. Eine fundierte Voruntersuchung ist essenziell.“

Die derzeit in Kingston geführten Verhandlungen werden darüber entscheiden, ob dieses Unterwasser-Erbe im zukünftigen Tiefseebergbaukodex expliziten Schutz erhält. Zwischen spirituellen Ansprüchen, wissenschaftlichen Erfordernissen und wirtschaftlichen Interessen gilt es, einen Ausgleich zwischen divergierenden Auffassungen über das Verhältnis der Menschheit zur Tiefsee zu finden.