Nicht jede KI macht souverän: Ein kritischer Blick auf Macht und Technik
Der Text zeigt, warum der Ruf nach Künstlicher Intelligenz als neuer Staatsmacht oft mehr über politische Sehnsüchte als über reale Steuerungsfähigkeit sagt. Er macht deutlich, dass Souveränität im digitalen Zeitalter nicht automatisch durch Zentralisierung entsteht und dass technologische Kontrolle schnell neue Risiken für Vertrauen, Governance und gesellschaftlichen Zusammenhalt schafft. Leserinnen und Leser lernen, staatliche KI-Versprechen kritischer zu prüfen und zu unterscheiden, wo Technologie tatsächlich hilft und wo bewusste Begrenzung die klügere politische Entscheidung ist.

Künstliche Intelligenz wird derzeit fast reflexhaft als neue Säule staatlicher Souveränität beschrieben. Wer KI beherrsche, so das gängige Narrativ, sichere seine Zukunft, schütze seine Institutionen und gewinne geopolitischen Einfluss. Diese Erzählung dominiert politische Reden, Strategiepapieren und Leitartikeln weltweit. Doch genau hier liegt ein blinder Fleck. Für Staaten wie Marokko könnte nicht ein Zuwenig, sondern ein falsches Verständnis von KI zum strategischen Risiko werden.
Der verbreitete Vergleich mit den Vereinigten Staaten greift zu kurz. Wenn Washington KI zur Infrastruktur staatlicher Macht erklärt, geschieht dies aus einer Position heraus, die über Jahrzehnte gewachsene Datenökosysteme, globale Technologiekonzerne, militärische Forschungsnetzwerke und nahezu unbegrenzte Haushaltsmittel vereint. Diese Voraussetzungen lassen sich nicht übertragen. Wer sie dennoch zum Maßstab macht, riskiert, institutionelle Formen zu schaffen, die mehr symbolisch als wirksam sind.
Die zentrale Frage lautet daher nicht, ob Marokko eine Direction Générale de l’Intelligence Artificielle braucht. Die eigentliche Frage ist, ob Zentralisierung im KI-Zeitalter überhaupt noch das richtige Organisationsprinzip ist. KI entfaltet ihren Nutzen nicht dort, wo sie administrativ gebündelt wird, sondern dort, wo sie kontextbezogen, begrenzt und überprüfbar eingesetzt wird. Ein zentrales KI-Organ kann Koordination versprechen, erzeugt aber zugleich neue Abhängigkeiten, neue Machtkonzentrationen und neue Angriffsflächen.
Besonders deutlich wird das im Bereich der Informationssicherheit. Die Vorstellung, Desinformation lasse sich durch algorithmische Überwachung beherrschen, ist verführerisch, aber gefährlich. Systeme, die Narrative analysieren, Diskurse kartieren und Anomalien erkennen, können ebenso leicht politische Kritik, soziale Spannungen oder legitime Gegenöffentlichkeit erfassen. Die Grenze zwischen Schutz und Kontrolle ist technisch unscharf, politisch sensibel und institutionell schwer zu sichern. Wer hier auf technologische Allmacht setzt, unterschätzt die Dynamik öffentlicher Kommunikation.
Hinzu kommt ein oft übersehener Effekt. Je stärker der Staat KI als Instrument der Steuerung begreift, desto höher werden die Erwartungen an ihre Leistungsfähigkeit. Fehlentscheidungen, Verzerrungen oder Ausfälle werden dann nicht mehr als technische Probleme wahrgenommen, sondern als politisches Versagen. Vertrauen lässt sich so nicht automatisieren. Es entsteht durch Nachvollziehbarkeit, Begrenzung und die Bereitschaft, auf bestimmte Formen algorithmischer Eingriffe bewusst zu verzichten.
Eine alternative Strategie wäre weniger spektakulär, aber robuster. Sie würde KI nicht als neue Schaltzentrale staatlicher Macht verstehen, sondern als präzises Werkzeug für klar definierte Probleme. Nicht eine allumfassende KI-Behörde, sondern verteilte Kompetenzzentren, klare Haftungsregeln und bewusste Nicht-Anwendungszonen könnten langfristig mehr Souveränität schaffen. Souveränität hieße dann nicht maximale Kontrolle, sondern die Fähigkeit, Technologie selektiv, reversibel und politisch verantwortbar einzusetzen.
Gerade für Marokko liegt hierin eine Chance, die kaum diskutiert wird. Statt dem globalen Wettbewerb um immer größere KI-Strukturen hinterherzulaufen, könnte das Land einen anderen Maßstab setzen. Einen Staat, der KI dort nutzt, wo sie konkret hilft, und sie dort begrenzt, wo sie Vertrauen, gesellschaftlichen Zusammenhalt oder institutionelle Klarheit gefährdet. Das wäre keine technologische Schwäche, sondern eine politische Entscheidung.
Die eigentliche Macht im KI-Zeitalter liegt nicht darin, alles berechnen zu können. Sie liegt darin, zu entscheiden, was nicht berechnet werden sollte. Wer diese Grenze souverän zieht, ist weiter als jene, die sie gar nicht mehr sehen.