Islamische Impulse für den Sozialstaat
Mit den thematischen Schwerpunkten „Wohlfahrt“ und „Seelsorge“ will die neu besetzte Deutsche Islamkonferenz (DIK) in dieser Legislaturperiode gemeinsam mit den islamischen Dachverbänden ein starkes Zeichen für eine stärkere Integration des Islam und der Muslime in Deutschland setzen.
Das wundert nicht, denn das Thema „Islamische Wohlfahrtspflege“ wird bereits seit einigen Jahren innerhalb und außerhalb der islamischen Gemeinschaften intensiv und kontrovers diskutiert. Dabei geht es um die Frage der Entstehung eines islamischen Wohlfahrtsverbandes als jüngstes Mitglied einer gewachsenen freien Wohlfahrtspflege in Deutschland. Muslime sind sich sicher: Ein solcher Verband wäre nicht nur äquivalent zu den christlichen und jüdischen Spitzenverbänden der freien Wohlfahrt, sondern auch ein zentraler Träger für professionelle soziale Dienstleistungen von Muslimen für die Allgemeinheit.
Dieser Vorstoß korrespondiert ebenfalls mit der Logik des staatlichen Verhältnisses zur – weltweit einzigartigen - deutschen Wohlfahrtspflege und seiner Gebote der Neutralität und Subsidiarität. Der Bundesstaat ist zur Gleichbehandlung der Religionen verpflichtet und kann sich einen islamischen Wohlfahrtsverband ohne weiteres vorstellen.
Doch welchen inhaltlichen Auslegungen folgt der viel zitierte Terminus „Wohlfahrtspflege“? Auf welchen gesellschaftlichen Bereichen erstreckt er sich? Wie lässt sich ein islamisches Verständnis von Wohlfahrtspflege in diesem Kontext einordnen? Und welche gesellschaftlichen Impulse sind zu erwarten
Eine neokorporatistische Verbindung
Eine der fundamentalsten Grundsätze der Wohlfahrtspflege in Deutschland ist und bleibt das staatliche, im Grundgesetz verankerte und auf ewig garantierte Bekenntnis zur sozialen Sicherheit und Gerechtigkeit. Dieses Bekenntnis strebt nicht nur die unbedingte Partizipation aller sozialen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in Deutschland an, sondern stellt zugleich die Ganzheit staatlicher Ressourcen und Institutionen zur Erreichung dieses Ziels zur Verfügung. In Paragraph 20 des Grundgesetzes stellt die Bundesrepublik Deutschland eine unaufhebbare Relation zwischen Demokratie und Sozialstaatlichkeit her, die durch eine Reihe von staatlichen Handlungsprinzipien und Steuerungsinstrumenten in einer verfassungsrechtlich garantierten Wohlfahrtspflege münden und somit ein integraler Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft sind.
Hinzu kommt eine weit reichende historische Partnerschaft zwischen dem Staat mit seiner sozialstaatlichen Interventionspflicht und der frei strukturierten Wohlfahrtspflege, die bis heute den dualen Wohlfahrtsstaat Deutschland definiert. Gerade diese Dualität mit der damit verbundenen Vielfalt und den institutionellen Ausprägungsformen macht das deutsche Modell der Wohlfahrtspflege in der Welt einzigartig. Sie erlaubt den groß verbandlich organisierten freien Trägern der Wohlfahrtsarbeit nicht nur die Erbringung von weit reichenden und überwiegend mit öffentlichen Mitteln finanzierten sozialen Dienstleistungen, sondern gewährt ihnen dabei auch ein gesetzlich verankertes Vorgangsrecht (Subsidiarität) und große Selbständigkeit ohne jedoch ihre finale Verantwortung gegenüber den Hilfesuchenden zu verlieren.
Daraus ist ein beeindruckendes System freier Wohlfahrtspflege entstanden, das in einem weit reichenden neokorporativen Verhältnis zum Staat steht. Die freie Wohlfahrtspflege betreibt hier eine aktive Interessenbildung und stellt großes Fachwissen bereit, um es kumuliert in einem politischen Entscheidungsprozess - mit dem Ziel der Einflussnahme - einfließen zu lassen. Aber auch der Staat kommt damit nicht nur mittelbar seiner sozialen Interventionspflicht nach, sondern sichert den gesellschaftlichen Frieden nachhaltig und geht somit eine wechselseitig funktionalisierende Verbindung mit der freien Wohlfahrtspflege ein, die sich über Jahrzehnte bewährt hat.
Die duale Wohlfahrtspflege in Deutschland
Am juristisch genauestens ist der Begriff der Wohlfahrtspflege in Paragraph 66, Abs. 2 des zweiten Teiles der Abgabenordnung definiert. Dort wird die Wohlfahrtspflege als „die planmäßige, zum Wohle der Allgemeinheit und nicht des Erwerbs wegen ausgeübter Sorge für Not leidende oder gefährdete Mitmenschen. Die Sorge kann sich auf das gesundheitliche, sittliche, erzieherische oder wirtschaftliche Wohl erstrecken und Vorbeugung oder Abhilfe bezwecken“.
Doch darüber hinaus weist die Wohlfahrtspflege eine Reihe von besonderen Strukturmerkmalen auf, die ihre Charakteristik aufzeigt. Eins der wichtigsten Merkmale orientiert sich an der Zweckform der Trägerschaft. Hier wird grundlegend unterschieden zwischen privaten und auf Gewinnerzielung ausgerichtete Träger einerseits und öffentliche und freie Träger mit erhöhter Fokussierung auf Gemeinwesen und Gemeinnützigkeit andererseits. Die beiden letzteren kooperieren darüber hinaus in einer einzigartigen Art und Weise, die allgemein als duale Wohlfahrtspflege bekannt ist und eine erstaunliche Rate von 95 % aller Menschen in Deutschland aufweist, die mindestens einmal im Leben „Kunden“ dieser Wohlfahrtspflege sind.
Hierbei nimmt die freie Wohlfahrtspflege mit ihren sechs Spitzenverbänden (Caritas, Diakonie, AWO, der Paritätische, DRK und die Zentrale Wohlfahrtsstelle der Juden) eine herausragende Stellung ein. Ihr kommt verstärkt die Wahrnehmung eines weiteren gesellschaftlichen Auftrags der Interessenbündelung und -vertretung von benachteiligten oder hilfsbedürftigen Mitmenschen. Sie soll ihre Stimmen hörbar machen, eine juristische Position zu Gunsten der Betroffenen einnehmen und bei der Weiterentwicklung des Deutschen Sozialstaates mitwirken. Dabei erfassen ihre Aufgabengebiete sämtliche Bereiche und Tätigkeitsfelder sozialer Dienstleistungen wie Kinder- und Jugendhilfe, Kranken- und Altenpflege, Behindertenhilfe, Migrationssozialarbeit und viele andere Bereiche der sozialen Infrastruktur in Deutschland. Im Jahre 2008 unterhielt die freie Wohlfahrtspflege alleine im Bereich der Jugendhilfe mit über 200.000 Betreuungsplätzen ca. 37 % ihrer Einrichtungen. Im Bereich der Alten- und Behindertenhilfe verfügt sie über Kapazitäten von fast 1 Millionen Plätzen/Betten und unterhält mehr als 30.000 Einrichtungen. Weit über 50 % aller sozialen Einrichtungen sind in Trägerschaft der freien Wohlfahrtspflege, wo rund 1,5 Millionen hauptamtliche Mitarbeiterrinnen und Mitarbeiter beschäftigt sind. Damit ist die freie Wohlfahrtspflege eine der größten Arbeitgeber in Deutschland mit mehr Beschäftigten als in der deutschen Automobilindustrie und im Baugewerbe. In mehr als 102.000 Einrichtungen generiert die freie Wohlfahrtspflege einen Gesamtumsatz von ca. 38 Milliarden Euro im Jahr.
Soziale Realitäten
Die DIK-Studie „Islamisches Gemeindeleben in Deutschland“ (2012) stellte bereits belastbare und bundesweite Daten zur Gestaltung einer islamischen Wohlfahrtsarbeit fest. Demnach bieten mehr als 40 % der Moscheegemeinden ihren Mitgliedern Sozial- und Erziehungsberatung an. Mehr als 50 % der Gemeinden unterstützen Schülerinnen und Schüler bei ihren Hausaufgaben, rund 36 % leisten für ihre Mitglieder Gesundheitsberatung. Bei Pflichtleistungen von Jugendämtern, wie Hilfe zur Erziehung (HzE) oder sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) sind muslimische Akteure der Wohlfahrtsarbeit nicht mehr wegzudenken. Schon heute sind Islamische Organisationen unverzichtbare Partner für Politik und Gesellschaft.
Die sozialen Dienstleistungen islamischer Organisationen in Deutschland erstrecken sich somit über wichtige Felder der sozialen Arbeit, insbesondere mit Kindern und Jugendlichen und werden durch den anhaltenden demographischen Wandel verstärkt. Sie decken relevante Bereiche der unterschiedlichen Bedarfe von muslimischen Kindern, Jugendlichen und deren Familien ab, ohne aber dafür eine adäquate professionelle Begleitung und Förderung zu erhalten oder eine große Relevanz in der wohlfahrtspflegerischen Infrastruktur zu erfahren.
Mit der aktuellen Debatte um die islamische Wohlfahrtspflege beabsichtigen die islamischen Dachverbände die Bündelung dieser vielfältigen sozialen Dienstleistungen und ihre unmittelbare Verortung in das Netz professioneller Wohlfahrtspflege. Sie sehen nicht zuletzt darin eine historische Chance muslimische Realitäten in Deutschland adäquat zu verankern und hier ein sichtbares Zeichen für die islamische Gemeinschaften in Deutschland zu setzen.
Die Dynamik Sozialstaatlichkeit
Gleichzeitig betont die Debatte aber auch einen ideellen gesellschaftlichen Mehrwert und wichtige Impulse bei der Weiterentwicklung des Wohlfahrtsstaates Deutschland setzen zu wollen. Dieser Ansatz korrespondiert nicht nur mit der gesetzlich verankerten Logik der Wohlfahrtsarbeit in Deutschland, sondern stellt angesichts der vier Millionen Muslime in Deutschland eine große und dynamische Kraftquelle dar, die einen großen gesellschaftlichen Nutzen herbeiführen kann.
Muslime glauben an die Unverletzlichkeit und die Sinnstiftung des Lebens. Aus diesem Verständnis heraus wenden sie sich an ihre Mitmenschen frei und im Zeichen der Nächstenliebe. Sie sehen sich ihren Mitmenschen gegenüber verpflichtet, insbesondere denjenigen gegenüber, die in Not geraten sind.
Aus diesem theologischen Verständnis heraus kann sich eine islamische Wohlfahrtspflege grundsätzlich nicht nur an Muslime richten, sondern an alle Menschen in unserer Gesellschaft unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit. Damit vollzieht sich eine völlige Übereinstimmung des muslimischen Auftrags der Nächstenliebe und der gesellschaftlichen Solidarität und trägt damit erheblich zur Gestaltung des sozialen Gefüges zum Wohle aller Menschen in Deutschland bei.
Islamische Wohlfahrtspflege fühlt sich verantwortlich zur Förderung von Wertepluralität, Chancengleichheit und Bildung. Sie unterstützt die Menschen bei der Wahrnehmung ihrer Rechte, steht für gesellschaftliche Randgruppen und Minderheiten ein und arbeitet aktiv und ganzheitlich an der Lösung von gesellschaftlichen und persönlichen Nöten der Menschen.
Ein Transformationsprozess ist unabdingbar
Damit sich eine zukunftsfähige islamische Wohlfahrtspflege in Deutschland entwickeln kann, müssen ihre Träger (Moscheegemeinden und islamische Dachorganisationen) einen gewaltigen strukturellen, konzeptionellen, methodischen und körperschaftlichen Transformationsprozess vollziehen. Denn eins steht fest: Moscheegemeinden und ihre Dachverbände verfügen heute weder über ausreichende Mittel und Ressourcen noch über zwingend notwendige Kompetenzen, um einen solchen Prozess vollziehen zu können.
Vielmehr müssen sie im Rahmen dieses Transformationsprozesses zum sozialen Dienstleister eine Reihe von Fragestellungen und Aufgaben bewältigen. Sie müssen nicht nur das Verständnis für eine hauptsächlich auf Bedarfsdeckung orientierte soziale Arbeit aufbringen, sondern auch die eigene Angebotsstruktur (nicht nur gegenüber dem eigenen Klientel) ausbauen, mehr Handlungsmöglichkeiten zur Reaktion auf gesellschaftliche Geschehnisse entwickeln und sich um die Implementierung von Qualitätsstandards, Organisationsstrukturen und Professionalität konzentrieren. Sie müssen ihre wichtige Arbeit auf wissenschaftliche Grundlagen sozialpädagogischen und sozialtätigen Handelns stellen, die auf die Autonomie der Individuen abzielen und ihre Teilnahme am öffentlichen Leben sichert. Sie brauchen deutlich bessere Strukturen in ihren sozialräumlichen Verortungen und ausgebildete Fachkräfte im Haupt-, Neben- und Ehrenamt.
Um das zu erreichen, brauchen diese islamischen Organisationen zwingend eine groß angelegte und tief greifende Qualifizierungsoffensive, die sie befähigen könnte, die geforderten Qualitätsstandards einer professionellen sozialen Arbeit einzuhalten.
Muslime versprechen sich davon eine echte gesamtgesellschaftliche soziale Partizipation, bei der viele Sozial- und Bildungsfragen der deutschen Einwanderungsgesellschaft effektiv und effizient mitgestaltet werden können und der gesellschaftliche Frieden nachhaltig gesichert bleibt.
Autor: Samy Charchira ist Sozialpädagoge und Mitglied des Landesvorstandes des paritätischen Wohlfahrtsverbands NRW. Er ist Sachverständiger für islamische Wohlfahrtsarbeit bei der Deutschen Islamkonferenz und Mitglied der Steuerungsgruppe des Zukunftsforum Islam der Bundeszentrale für politische Bildung. Als Vorstandsmitglied gehört er den freien Träger „Düsseldorfer Wegweiser“ das sich, In Kooperation mit dem Nordrhein-westfälischen Ministerium für Inneres und Kommunales, gegen gewaltbereitem Neo-Salafismus einsetzt.