Euromed - Marokko will ins Zentrum geopolitischer Gestaltung rücken
Die Rede von Außenminister Nasser Bourita bei der hochrangigen Tagung zur Zukunft der euro-mediterranen Beziehungen in Rabat markiert einen Wendepunkt in der Diplomatie des Königreichs. Marokko präsentiert sich nicht länger als Randakteur, sondern als treibende Kraft, die bereit ist, Verantwortung für die Neugestaltung des Euromed-Prozesses zu übernehmen.
Marokko verfolgt im Rahmen des euro-mediterranen Partnerschaftsprozesses eine neue, deutlich offensivere Strategie. Außenminister Nasser Bourita forderte in Rabat eine Abkehr vom bisherigen, überwiegend technokratischen Austausch hin zu einem klar strukturierten geopolitischen Projekt. Ziel ist es, die Mittelmeerregion von einer lose verknüpften Nachbarschaftspolitik zu einer „Gemeinschaft des Handelns“ zu entwickeln.
Bourita diagnostiziert eine Identitätskrise des Euromed-Prozesses: Während der Norden vor allem Sicherheit und Migrationsfragen priorisiert, erwarten die südlichen Partner Entwicklung, Mobilität und Investitionen. Hinzu kommen geopolitische Blockaden im Maghreb, anhaltende Krisen im Nahen Osten und die geringe Legitimität eines zu technokratischen Prozesses. Marokko schlägt deshalb eine Neuorientierung vor, die ambitionierte Langfristziele mit pragmatischen Zwischenschritten verbindet. Zentrale Handlungsfelder sind die Sicherung strategischer Energie- und Nahrungsmittelversorgung, die Vernetzung der Volkswirtschaften, die Förderung von Talenten, die Repolitisierung des Dialogs sowie die Einrichtung eines euro-mediterranen Kohäsionsfonds, an dem sich alle Partner entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit beteiligen.
Die Europäische Kommission stellte in Rabat ihrerseits einen „neuen Pakt für die Mittelmeerregion“ vor, basierend auf drei Säulen: Stärkung des Humankapitals (Jugend, Bildung, Kultur), Entfaltung des wirtschaftlichen Potenzials (Integration, Investitionen, Energiewende, Digitalisierung) und Aufbau von Sicherheit und Resilienz (Krisenbewältigung, Migration, Grenzmanagement). Die Kommissarin Dubravka Šuica betonte den Anspruch auf ein gleichberechtigtes Miteinander und kündigte konkrete Projekte an, deren Umsetzung jedoch vom Konsens der Mitgliedstaaten abhängt.
Experten wie Mohamed Badine El Yattioui werten den marokkanischen Ansatz als realistisch und zukunftsweisend: Marokko strebe danach, von der Peripherie ins Zentrum des Euromed-Raums zu rücken und zugleich als Brücke nach Afrika zu wirken. Doch die Verwirklichung hängt entscheidend von der Bereitschaft Europas ab, alte Denkmuster aufzugeben, Prioritäten neu zu setzen und gemeinsame Finanzierungsinstrumente zu schaffen. Divergierende nationale Interessen - etwa Italiens bilaterale Sonderwege oder die durch den Ukrainekrieg verstärkte Ostorientierung der EU - bleiben große Hürden.
Die Stärke Marokkos liegt in seiner politischen Stabilität, seiner geopolitischen Lage zwischen Europa, Afrika und dem Atlantik, sowie in seiner wirtschaftlichen Attraktivität mit Infrastrukturen wie Tanger-Med und Nador. Das Königreich bietet sich als stabiler Partner an, der sicherheitspolitische Glaubwürdigkeit mit geoökonomischem Potenzial verbindet.
Am Ende steht eine klare Botschaft: Nur wenn die EU bereit ist, das Mittelmeer nicht als Randthema, sondern als zentralen geopolitischen Raum zu begreifen, und wenn Nord und Süd tatsächlich auf Augenhöhe kooperieren, kann das euro-mediterrane Projekt wiederbelebt und zu einer tragfähigen Zukunftsgemeinschaft geformt werden.